Aufarbeitung

Vergewaltigung als Kriegswaffe

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Sven Felix Kellerhoff

Der Film "Anonyma – Eine Frau in Berlin" und diverse Bücher beleuchten endlich ein lange totgeschwiegenes Tabuthema: Sexuelle Gewalt als Waffe gegen den "Feind".

Manchmal kann selbst ein Schlag mit einem Gewehrkolben eine Gnade sein. Ilse Wolf ersparte ein solcher Schlag, bei vollem Bewusstsein missbraucht zu werden: „Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, mein Rock war heruntergerissen, ich hatte eine Platzwunde am Kopf und blutete. Er war weg. Von der Vergewaltigung habe ich nichts mitbekommen.“ Er: Das war ein Rotarmist, dunkelhaarig, klein und mit „Säbelbeinen“. Im Mai 1945 vergewaltigte dieser Soldat wie unzählige seiner Kameraden wehrlose Frauen in Berlin.

Mit „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ nach dem gleichnamigen Bestseller (btb Verlag, 282 S., 9 Euro) kehrt ein unsäglich brutales Kapitel der Vergangenheit ins Bewusstsein der Gegenwart zurück: sexuelle Gewalt gegen Frauen im Krieg, speziell am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Zwar wurde und wird teilweise noch gestritten, wer sich hinter der „Anonyma“ verbarg, doch kann als nahezu gesichert gelten, dass die Autorin Marta Hillers (1911 bis 2001) war, eine Berliner Journalistin. Unklar bleibt dagegen, wie sehr der publizierte Text von dem erhaltenen Original abweicht. Hier ist nachzuarbeiten.

Diese Debatte ändert aber nichts an der Richtigkeit der geschilderten Ereignisse. Die ZDF-Autorin Ingeborg Jacobs hat gerade ihren Band „Freiwild“ erscheinen lassen, in dem zahlreiche Zeitzeuginnen-Interviews mit 1945 vergewaltigten Frauen zusammengefasst sind (Propyläen Verlag, 230 S., 19,90 Euro). Allein aus Berlin schildert sie ein gutes halbes Dutzend Schicksale, die jenem der „Anonyma“ teilweise sehr ähneln. Viele dieser Frauen haben sich erstmals geäußert, denn die Opfer von Vergewaltigungen schweigen oft – aus Scham und aus Angst vor männlichen Verwandten und Freunden.

Daher ist völlig unklar, wie viele Frauen 1945 von Sowjet-Soldaten geschändet wurden. Die Schätzungen reichen von „etwa jeder zwanzigsten Frau“, wie ein SED-Funktionär 1947 an seine Parteivorgesetzten berichtet haben soll, bis zu „neun von zehn Berlinerinnen“, wie in antikommunistischen Broschüren im Kalten Krieg nachzulesen ist. Die mutmaßlich genaueste Schätzung haben die Filmemacherin Helke Sander und die Historikerin Barbara Johr vorgelegt. Sie gehen in ihrem Buch „BeFreier und Befreite“ (Fischer Taschenbuch, 228 S., 9,95 Euro) von etwa sieben Prozent Vergewaltigungsopfern in Berlin aus. Diese Zahl dürfte vielen Zeitzeuginnen zu niedrig erscheinen. Aber selbst bei „nur“ sieben Prozent betroffenen Frauen waren die Schändungen ein Massenphänomen – bei 1,4 bis 1,8 Millionen in der Reichshauptstadt verbliebenen Frauen etwa 100.000 bis 125.000 Opfer.

Nicht überzeugend geklärt werden kann im Moment die Motivation der massenhaften sexuellen Gewalt. Die Historikerin Silke Satjukow hat erstmals die Rolle der russischen Soldaten in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1994 umfassend untersucht (Besatzer. „Die Russen“ in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen. 406 S., 34,90 Euro) – doch Befehle zu Massenvergewaltigungen gibt es nicht.

Ein von vielen Zeitzeugen erinnerter sowjetischer Aufruf mit den Worten „Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der deutschen Frauen!“ ist bis heute nicht im Original dokumentiert. Viel spricht dafür, dass es sich um ein Gerücht handelt, obwohl eine Zeile wie diese dem sowjetischen Propagandisten Ilja Ehrenburg zuzutrauen gewesen wäre.

Nach über 60 Jahren wird endlich die Erfahrung massenhafter sexueller Gewalt am Ende des Krieges im Bewusstsein verankert. Das ist gut, denn nur wenn man die ganze Geschichte sieht, die Toten des deutschen Expansions- und Rassenwahns ebenso wie die deutschen Opfer von Bombenkrieg, Flucht, Vertreibung und Besatzung, wird glaubwürdige Erinnerung möglich.