Morgenpost Online: Welches Verhältnis haben Sie zu der Frau, die Sie in „Anonyma“ spielen?
Nina Hoss: Als ich das Buch las, hat mich, abgesehen davon, was den Frauen am Ende des Krieges in Berlin widerfuhr, vor allem eines interessiert: Warum verschreibt sich eine junge, gebildete Deutsche, die Europa bereist und im Ausland gelebt hat, der nationalsozialistischen Ideologie. Wie konnte sie dem so aufsitzen, so intellektuell wie sie war.
Morgenpost Online: Die Nazis hatten eben auch ihre Intellektuellen.
Nina Hoss: Ja, aber damit hatte ich mich bis dahin noch nicht beschäftigt, weil man diese Ideologie so selbstverständlich ablehnt. Für den Film musste ich mich mit den Zeitumständen auseinandersetzen. Das Land war unten, und plötzlich wurden Feldzüge gewonnen. Da konnte auch bei unabhängigen Geistern der Gedanke aufkommen: Vielleicht stimmt es ja, dass wir besser sind als alle anderen. Die Erzählerin lässt ja anklingen, dass sie vielleicht nicht gerade mitgemischt hat, aber doch eine Mitläuferin war. Immerhin war sie Journalistin und hat also auch Propaganda gemacht.
Morgenpost Online: Man kann sie nicht einfach als unschuldiges Opfer darstellen.
Nina Hoss: Natürlich nicht. Ich durfte es mir nicht zu leicht machen. Andererseits findet sie bei all den schrecklichen Dingen, die ihr widerfahren, die Kraft, sich hinzusetzen und differenziert zu reflektieren, wer denn diese Russen sind, die ihr das antun. Fünf Minuten nach einer Vergewaltigung darüber nachzudenken, dass das ja auch eine Aufrechnung, eine Vergeltung ist für das, was die Deutschen in Russland getan haben, dazu gehört schon viel Kraft und Aufrichtigkeit.
Morgenpost Online: Wie verstehen Sie die Gefühle dieser Frau? Der Film zeigt ja mehr als das Tagebuch offenbart, wo, egal was passiert, ein schnoddriger Ton durchgehalten wird, als Fassade und Selbstschutz.
Nina Hoss: Es tauchen aber immer wieder Formulierungen auf wie „Habe wieder stundenlang geweint“. Was heißt denn das? Die sitzt also in der Ecke und heult sich die Seele aus dem Leib. Bis sie wieder Holz holen muss. Sie war nicht abgestumpft, sie schreibt bloß nicht über ihre Verzweiflung. Und das hängt mit ihrer preußischen Erziehung zusammen. Man hatte zu funktionieren. Die eigene Befindlichkeit stand nicht so im Mittelpunkt.
Morgenpost Online: Wir sehen den Lernprozess einer Frau, die nach den Ursachen für die Katastrophe zu fragen beginnt; aber auch, wie die Frau von den Siegern vergewaltigt wird. Hatten Sie mit dieser seltsamen Verbindung von sexueller Gewalt und politischer Pädagogik Probleme?
Nina Hoss: Nein. Sie selbst reflektiert ja darüber und ist nicht das Objekt einer Pädagogik. Natürlich kann man verstehen, wenn eine Frau die Russen hasst, weil sie von Russen vergewaltigt wurde. Aber diese Frau tut das nicht. Sie entschließt sich, genau hinzuschauen, auch wenn ihr das Schrecklichste passiert. Das ist ihre Art, mit der Situation umzugehen.
Morgenpost Online: Können Sie sich an eine Situation bei den Dreharbeiten erinnern, wo Ihre Rolle Sie ratlos machte?
Nina Hoss: Ratlos war ich eigentlich permanent. Der Film war wirklich harte Arbeit. Ich musste die Gefühlslage immer genau austarieren. Wie groß ist die Todesangst? Im Buch ist manchmal von kaltem Schweiß die Rede. Aber der rinnt einem nicht so einfach, da kann man sich noch so sehr in eine Figur hineinversetzen. Die Angst und gleichzeitig das Verbergen von Angst zu zeigen, war sehr anstrengend, aber auch spannend.
Morgenpost Online: Kommen wir mal auf die Männer des Films zu sprechen. An was ist der Kriegsheimkehrer zerbrochen?
Nina Hoss: Ich habe das so verstanden, dass er etwas im Krieg erlebt hat, das er nicht mitteilen kann. Er hat ein Kriegstrauma. Und er kann den Umgang seiner Frau mit der neuen Situation nicht nachvollziehen. Sie kann noch tanzen gehen. Das kann er nicht verstehen.
Morgenpost Online: Die Frau hat sich ja auch ganz pragmatisch mit einem jungen Russen arrangiert. Warum sind Frauen zu solchem Pragmatismus fähig und Männer nicht?
Nina Hoss: Das müssen Sie mir sagen.
Morgenpost Online: Na ja, es gibt auch pragmatische Männer, die in den Trümmern schon das Wirtschaftswunder planen. Vor allem gibt es die Sieger, die Russen. Sind Sieger sexy?
Nina Hoss: Ich finde es schwierig und gefährlich, in dem Zusammenhang von „Sieger sind sexy“ zu sprechen. Für die Frauen waren sie eine große Bedrohung. Anonyma beschreibt die deutschen Soldaten, die abgemagert in Lumpen herumlaufen, und die kräftigen Russen mit den sauberen Uniformen. Sie fragt sich, wie das wieder zusammenkommen soll, und hat das Kriegsmittel Vergewaltigung durchschaut. Die deutschen Soldaten kommen aus dem Krieg zurück und wollen nichts wissen von der Demütigung, die den Frauen widerfuhr. Deshalb trafen die Frauen ein Schweigeabkommen, um das Fortbestehen der Gesellschaft zu sichern. Es wurde doppelt geschwiegen: über die Taten und die Leiden.
Morgenpost Online: Die Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee sind im russischen Geschichtsunterricht tabu. Wie gingen Ihre russischen Schauspielerkollegen mit dem Stoff um?
Nina Hoss: Das war schwierig. So richtig darüber gesprochen haben wir nicht. Ich glaube, es gab unterschiedliche Haltungen. Manche mögen gedacht haben: Die sollen sich mal nicht so haben wegen der paar Minuten. Manche Kollegen waren aber auch offen für das Thema. Aber der Sieg über die Deutschen ist zentral für das russische Selbstbewusstsein. Da bleibt das Thema russischer Verbrechen natürlich schwierig.