Vor viereinhalb Jahren traf ich mich mit einem Journalisten, um mit ihm über meinen Debütroman zu sprechen, der von meiner autistischen Kindheit und Jugend in Hamburg handelt. Kaum hatte ich Platz genommen, schüttete der gute Mann eine Schachtel Streichhölzer vor meiner Nase aus und fragte mich mit leuchtenden Augen, wie viele Hölzer auf dem Tisch liegen würden. Es dauerte ein wenig, bis ich ihm erklärt hatte, dass nicht jeder Autist ein Rainman sei. Die Zahl der Autisten würde drastisch sinken, wenn Ärzte bei der Diagnose auf Autismus Streichhölzer und Zahnstocher vor den Nasen ihrer Patienten ausschütten würden. Nur derjenige wäre ein Autist, der mit einem Blick die exakte Anzahl erspähen könnte.
In den letzten Jahren habe ich viele Filme gesehen, in denen Autisten eine Rolle spielten. In allen Filmen wurden Streichhölzer ausgeschüttet. Zwei befreundete Autisten haben mich auf „Snow Cake“ aufmerksam gemacht. Der Film solle anders sein.
Die Geschichte spielt im Winter in Kanada, was ich sympathisch finde. Hin und weg bin ich, als ich mitbekomme, dass es da in Kanada einen Ort namens Wawa gibt. Ein wunderbarer Name! Eine junge Frau sucht eine Mitfahrgelegenheit dorthin. Sie findet einen netten Mann, der sie mitnimmt. Ein paar Kurven und ein Lachen später ist sie tot. Im Winter in Kanada gibt es auch unachtsame Autofahrer. Der nette Mann überlebt. Noch unter Schock sucht er die Mutter der jungen Anhalterin auf, um ihr...
An solchen Stellen bin ich früher arg ins Straucheln geraten. Eine Mutter hat ihre einzige Tochter verloren. Der Mann wird ihr gleich begegnen und ihr von dem Todesfall erzählen. Während die heikle Situation näher rückt, überlege ich, was in solchen Fällen sozial angemessen ist. Beim Kondolieren spricht man sein Beileid aus. Verunsichert denke ich an all die Todesfälle und Beerdigungen zurück, die ich erlebt habe. Es gibt in Hamburg Menschen, die von Poppenbüttel nach Winterhude umziehen, und es gibt Menschen, die auf den Friedhof umziehen. Emotional habe ich zwischen diesen beiden Umzugsarten nie einen Unterschied gemacht. Meine Mutter hat mir zwar erklärt, worum es beim Kondolieren geht. Doch so richtig habe ich es nie verstanden. Am besten hat mir ihr Rat gefallen, dass ich einfach schweigen sollte.
Der Mann, er heißt Alex, klingelt bei der Mutter, sie heißt Linda. Er überbringt ihr die „traurige“ Nachricht vom Tode ihrer einzigen Tochter. Linda verhält sich so, als wäre die Tochter lediglich umgezogen. Befremdet betritt Alex das Reich dieser Frau. Er wird neugierig und findet schnell heraus, was in Wawa alle wissen. Linda ist eine Autistin. Und alle Wawawesen haben das gleiche Problem, das Alex hat: Wie kondoliert man einer Autistin? Die einfachste Lösung wäre, es bleiben zu lassen. Doch die Wawawesen wissen es besser. Linda und Alex gehen durch den Ort. Eine Frau begrüßt Linda und sagt zu ihr:
„Es tut mir leid, dass Sie Ihre Tochter verloren haben.“
„Ich habe meine Tochter nicht verloren“, antwortet Linda. „Sie ist tot.“
Ich muss lachen, weil ich mich ertappt fühle. In einer Welt des wortwörtlichen Verstehens kann man Streichhölzer verlieren und Töchter und Zahnstocher. Linda wird von Sigourney Weaver hervorragend gespielt. Und dieser Gesichtsausdruck einer Umzugsexpertin ist mein Lieblingsgesichtsausdruck in dem Film. Linda würde zwar hin und wieder ein Streichholz verlieren, aber doch nicht ihre Tochter! Das muss ein Wawawesen sein, das auf einen solchen Gedanken kommt. Nicht minder gut gefällt mir Alan Rickman in der Rolle des Alex. Er spielt ihn in einer feinen Mischung aus Befangenheit und Neugier. Stück für Stück traut er sich hervor und erkundet Lindas Reich.
Wer mag das Drehbuch geschrieben haben? Es ist ein gutes Drehbuch, es ist authentisch. Von einem Autisten stammt es wohl nicht, da die Geschichte von außen erzählt wird, nicht von innen. Doch die Autorin Angela Pell weiß über Autismus viel mehr, als man sich durch Recherche aneignen könnte. Später erfahre ich, dass Angela Pell einen autistischen Sohn hat. Ja, das spürt man. Diese Geschichte ist erlebt und erlitten. Sie bezaubert vor allem in den unspektakulären Details.
Axel Brauns wurde 1963 in Hamburg geboren. 1984 brach er sein Jurastudium ab, um ein Buch über seine autistische Kindheit zu schreiben: „Buntschatten und Fledermäuse“, das 2002 erschien und zu einem Bestseller wurde.