Zum Kinostart von "Anonyma"

Wie Berlinerinnen von Rotarmisten vergewaltigt wurden

| Lesedauer: 7 Minuten
Sven Felix Kellerhoff

Mindestens 100.000 bis 125.000 Berlinerinnen wurden nach 1945 von Angehörigen der Roten Armee vergewaltigt. Das Filmdrama "Anonyma", das jetzt in die Kinos kommt, greift nun die Erlebnisse der von Russen vergewaltigten Berliner Journalistin Marta Hillers auf. Befehle dazu gab es nach Stand der Forschung jedoch keine.

Manchmal kann selbst ein Schlag mit einem Gewehrkolben eine Gnade sein. Ilse Wolf, Mutter eines gerade dreijährigen Sohnes, ersparte ein solcher Schlag, bei vollem Bewusstsein vergewaltigt zu werden: "Plötzlich bekam ich einen Schlag über den Kopf, und dann weiß ich nichts mehr.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden, mein Rock war heruntergerissen, ich hatte eine Platzwunde am Kopf und blutete. Er war weg. Von der Vergewaltigung habe ich nichts mitbekommen." "Er", das war ein Rotarmist mit asiatischem Aussehen, dunkelhaarig, klein und mit "Säbelbeinen". Im Frühjahr 1945 vergewaltigte dieser Soldat wie unzählige seiner Kameraden wehrlose Frauen in Berlin.

Nach ihrer Bewusstlosigkeit ergriff Panik Ilse Wolf, und sie flüchtete sich in den Schutz des Hausmeisters. Der hatte ein altes Buffet, in das die geschändete Frau kletterte. Ihr Retter stellte sein Geschirr vor die verängstigte Frau, und mehrfach kamen noch Rotarmisten in die Parterrewohnung und fragten "Wo Frau?" Der Hausmeister blieb standhaft: "Hier nix Frau!". Er hatte ebenso viel Glück wie Ilse Wolf: Die Eroberer verzichteten auf eine Durchsuchung. Sie hätte wohl beide das Leben gekostet.

Seit 2008 gilt Vergewaltigung als Kriegsverbrechen

Am Donnerstag kommt "Anonyma - Eine Frau in Berlin" in die deutschen Kinos, gedreht von Max Färberböck nach dem gleichnamigen Bestseller. Damit kehrt ein unsäglich brutales Kapitel der Vergangenheit ins Bewusstsein der Gegenwart zurück: sexuelle Gewalt gegen Frauen im Krieg, speziell am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Erst seit Juni 2008 ist Vergewaltigung in militärischen Konflikten von den Vereinten Nationen offiziell als Kriegsverbrechen eingestuft. Doch nur selten gibt es über den massenhaften Missbrauch genaue Informationen. Der Erfolg des Tagebuchs der "Anonyma" lenkt den Blick darauf.

Das Buch, erstmals 1954 auf Englisch erschienen, dann 1959 von einem Genfer Kleinverlag auf Deutsch herausgebracht und hierzulande ein Ladenhüter, wurde 2003 zum Überraschungserfolg. Der Text, ursprünglich in zwei Schulhefte und eine Kladde notiert, dann relativ zeitnah auf 121 Schreibmaschinenseiten abgetippt, beschreibt die Erlebnisse einer Frau von Anfang dreißig in Berlin zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945.

Sie schildert die Eroberung der Reichshauptstadt durch die Rote Armee, die unsägliche Vergewaltigungsorgie sowie die verständnislose Reaktion ihres Freundes, als er von der Schändung seiner Freundin erfuhr.

Marta Hiller war Anonyma

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Autorin Marta Hillers (1911-2001) war, eine Berliner Journalistin. Sie wollte zwar anonym bleiben, doch das Festhalten an diesem Wunsch nach ihrem Tod ist eine wenig glückliche Marketingmaßnahme. Denn verrätselte Zeitgeschichte trägt nicht nur nicht zur Aufklärung bei, sondern kann sogar zum Gegenteil führen.

Einige Zeitungen zogen im Herbst 2003 die Authentizität der Schilderungen in Zweifel, unter anderem, weil als Herausgeber der Ausgaben in den fünfziger Jahren der Schriftsteller Kurt W. Marek zeichnete. Marek hatte etwa 1941 eine Tagebuchmontage zum Kampf um Narvik veröffentlicht und war ein erfolgreicher Autor der Propagandakompanien der Wehrmacht gewesen.

Daher wäre es überfällig, nach dem Filmstart eine historisch-kritische Ausgabe des Tagebuchs zu publizieren, in der neben dem veröffentlichten Text die Originalaufzeichnungen dokumentiert werden. Übrigens muss ein Tagebuch durch Literarisierung nicht notwendig an Quellenwert verlieren; die bekanntesten Berichte aus dem Berlin der NS-Zeit, Ruth Andreas-Friedrichs "Der Schattenmann" und Ursula von Kardorffs "Berliner Aufzeichnungen" sind Beispiele dafür: Beide sind nach 1945 stark bearbeitet worden und dennoch absolut unverzichtbar für die Forschung.

Wissenschaft bestätigt die Realitätsnähe

Vor allem aber ändert die Debatte um die Urheberschaft und die Textgenauigkeit nichts an der grundsätzlichen Richtigkeit der geschilderten Ereignisse. Das zeigen neue wissenschaftliche und geschichtsjournalistische Bücher. Die ZDF-Autorin Ingeborg Jacobs hat gerade ihren Band "Freiwild" erscheinen lassen, in dem zahlreiche Zeitzeuginnen-Interviews mit 1945 vergewaltigten Frauen zusammengefasst sind (Propyläen Verlag, 230 Seiten, 19,90 Euro). Allein aus Berlin schildert sie ein gutes halbes Dutzend Schicksale, die jenem der "Anonyma" teilweise sehr ähneln.

Viele dieser Frauen haben sich erstmals gegenüber Ingeborg Jacobs geäußert. Denn Begleiterscheinung von Vergewaltigungen ist, dass die Opfer oft schweigen - aus Scham und aus Angst vor der Reaktion ihrer männlichen Verwandten und Freunde. Daher ist völlig unklar, wie viele Frauen 1945 von Sowjet-Soldaten geschändet wurden.

Die Schätzungen reichen von "etwa jeder zwanzigsten Frau", wie ein SED-Funktionär 1947 berichtet haben soll, bis zu "neun von zehn Berlinerinnen", wie in antikommunistischen Broschüren im Kalten Krieg nachzulesen ist. Die verlässlichste Schätzung geht von etwa sieben Prozent Vergewaltigungsopfer in Berlin aus, was angesichts 1,4 bis 1,8 Millionen in der Reichshauptstadt verbliebenen Frauen etwa 100.000 bis 125.000 missbrauchten Berlinerinnen entspricht. Selbst bei "nur" sieben Prozent waren die Schändungen also ein Massenphänomen - umso mehr angesichts der weiteren Vergewaltigungen auf dem Weg der Roten Armee nach Berlin.

Nicht überzeugend geklärt werden kann im Moment die Motivation der massenhaften sexuellen Gewalt. Die Historikerin Silke Satjukow hat erstmals die Rolle der russischen Soldaten in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1994 umfassend untersucht (Besatzer. "Die Russen" in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen. 406 S., 34,90 Euro) - doch Befehle zu Massenvergewaltigungen gibt es nicht.

"Nehmt sie als rechtmäßige Beute!"

Auch ein von vielen Zeitzeugen erinnerter sowjetischer Aufruf mit den Worten "Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der deutschen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute!" ist bis heute nicht im Original dokumentiert. Viel spricht dafür, dass es sich dabei um ein Gerücht handelt, obwohl eine Zeile wie diese dem sowjetischen Propagandisten Ilja Ehrenburg durchaus zuzutrauen gewesen wäre.

Unabhängig von der Qualität von Färberböcks Verfilmung und von allem Streit um die Authentizität des Buches im Detail bleibt: Nach mehr als sechzig Jahren wird endlich die Erfahrung massenhafter sexueller Gewalt am Ende von Hitlers Krieg im Bewusstsein verankert. Das ist richtig. Denn nur wenn man die ganze Geschichte sieht, die Toten des deutschen Expansions- und Rassenwahns ebenso wie die deutschen Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung sowie Besatzung, wird glaubwürdige Erinnerung möglich.