Vor 125 Jahren wurde der geniale Schriftsteller und Kabarettist bei Leipzig geboren. Trotz seiner beachtlichen literarischen Leistungen wurde Joachim Ringelnatz zeitlebens übel mitgespielt. Schon früh musste er so viele Demütigungen erleiden, dass es locker für ein Lebenswerk reichte

"Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen." Das ist zwar nicht von Ringelnatz, sondern von Goethe. Gleichwohl trifft dieser Sinnspruch in besonderer Weise auf jenen Mann zu, der am 7. August 1883 als Hans Bötticher in Wurzen bei Leipzig geboren wurde. Sein Vater war Zeichner, schrieb Kinderbücher und schmiedete humoristische Verse. Seine Mutter fertigte Perlenstickmuster und Puppenkleidung.

Doch ein Püppchen konnte das jüngste von drei Geschwistern nicht sein. Dafür war seine Nase zu groß, sein Kinn zu asymmetrisch, seine Statur zu schief. "Ich bin überzeugt, dass mein Gesicht mein Schicksal bestimmt", notierte er später. "Hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben anders, jedenfalls ruhiger verlaufen." Gehänselt von Mitschülern, enerviert von Lehrern, die er "Dunkelmenschen" nannte, igelte sich Hänschen ein.


Mit neun Jahren schrieb er sein erstes Gedicht

Und entdeckte und entwickelte dabei die elterlichen Gaben: Gerade neun Jahre alt war er, als das erste von ihm verfasste und illustrierte Werk entstand: das Gedicht "Landpartie der Tiere". Kaum älter war er, als absehbar wurde, dass es ihn mehr in die Ferne als in den Unterricht ziehen würde.

In einer Pause ging er zu einer Völkerschau in den Zoo, um sich von einer Samoanerin eine Tätowierung stechen zu lassen. Das damals exotische Artefakt war der Anfang vom Ende einer kurzen Schullaufbahn. Zugleich war es ein sinnbildlicher Einschnitt, in dem sein Fernweh und seine Sehnsucht nach bleibendem Kunstschaffen in eins fielen.

Fünf Jahre lang, von 1901 bis 1905, verdingte sich Hans Bötticher, der sich erst 1919 nach einem maritimen Ausdruck für Seepferdchen Ringelnatz nannte, als Seemann und, auf der Suche nach Inspiration, als Sehmann. Dabei lernte das Sensibelchen mehr nolens als volens, wie man sich abhärtet. Als Schiffsjunge wurde er "Nasenkönig" geschimpft, als Matrose wegen Sächselns verspottet.

Bei Landaufenthalten litt er Hunger, bei Gelegenheitsarbeiten, etwa als Transporteur von Riesenreptilien für eine Schlangenbude auf dem Hamburger Dommarkt, ließ er sich schikanieren. Als er 1906 wieder an Land sesshaft wurde, konnte er immerhin zweierlei auf der Habenseite verbuchen: sich einen Schutzpanzer zugelegt zu haben. Und so viel Anschauungsmaterial gesammelt zu haben, dass es für ein Lebenswerk reichen musste.

Erste Auftritte im "Simplicissimus"

Lehr- und Wanderjahre verarbeitete Ringelnatz, der 1909 im Münchner Künstlerlokal "Simplicissimus" erste Auftritte als Kabarettist absolvierte, konsequent ambivalent: Zum einen stilisierte er seine deprimierenden Erfahrungen auf dem Meer in Gestalt seines heroisch gestimmten Alter Ego, Kuttel Daddeldu (1920).

Zum anderen ging er mit früherem Fernweh selbstironisch ins Gericht: "In Hamburg lebten zwei Ameisen, / die wollten nach Australien reisen. / Bei Altona, auf der Chaussee, / da taten ihnen die Beine weh, / und da verzichteten sie weise / dann auf den letzten Teil der Reise."

In diesem Gedicht steckt viel von dem, was Ringelnatz' Aktualität ausmacht: der Zug, der Hang, der Drang "ins Offene", wie Lyriker-Kollege Friedrich Hölderlin seine überbordenden ozeanischen Gefühle einmal nannte. Mehr als 160 000 Deutsche sind 2007 ins Ausland gezogen - das ist die höchste von Heilserwartungen flankierte Exodusziffer seit 1954.

Bei Ringelnatz lernt man viel über deutsche Migranten-Träume, die oft Schäume sind. Über exotische Begehrlichkeiten, die sich rascher zerschlagen, als eine Samoanerin zustechen kann. Insofern ist der gescheiterte Fahrensmann und gescheite Fährnis-Humordichter so etwas wie der Vordenker der Neuen Deutschen Auswanderungswelle.

Er arbeitete als Bibliothekar

Zu diesem Gefühl des Scheiterns fügen sich weitere biografische Bruchstücke: Zwischen 1912 und 1914, als er Fuß zu fassen suchte als Dichter, arbeitete Ringelnatz in Schlesien als Bibliothekar der Familie Yorck Graf von Wartenburg, aus der einer der glücklosen Hitler-Attentäter stammt. Und nachdem er sich als der einzige Marineoffizier 1918 unmittelbar vor der Novemberrevolution in die Matrosenversammlung gewagt hatte, dankte Ringelnatz endgültig ab, was Fernweh, militärischen Siegeswillen, das Meer und transzendente Utopien überhaupt anbelangt.

Stattdessen wurde er trotz seines unsteten Wesens endgültig auf der Landseite sesshaft: unter anderem als Verlagsarchivar, Gartenbauer und Ehemann (1920 heiratete er eine um 15 Jahre jüngere Lehrerin). Es folgten moderat kritisch unterfütterte Kabarett-Tourneen (ein dezidiert politischer Kopf war Joachim Ringelnatz nie), ansatzweise literarischer Ruhm als Dichter der damals wie heute kultverdächtigen Figur Kuttel Daddeldu - und ansonsten die stoische Haltung gegenüber steter Geldnot.

1934 ist der nur ein Jahr zuvor von den Nazis mit Bücherverbrennung, Publikations- und Auftrittsverbot belegte Wortführer der sanften Subversion an Tuberkulose gestorben. Gemäß seinem letzten Wunsch ist er zu den Klängen von "La Paloma" der Erde überantwortet worden. Er starb verarmt, verfemt, vor allem aber, den Folgen seiner Krankheit geschuldet: verunstaltet. Gerade so, wie es ihm seine Mitschüler weiland nachgerufen hatten.

Dass Joachim Ringelnatz heute neben dem auch nicht gerade als Schönheitsideal geltenden Wilhelm Busch als der Großmeister des gepflegten Bonmots, der klugen Sottise und des schönen Schmähens gelten darf, ist ein später Triumph für einen oft geschmähten deutschen Dichter.

Neue Ringelnatz-Bücher

Eine von Hans Ticha illustrierte Gesamtausgabe der Gedichte ist unter dem Titel "Und auf einmal steht es neben dir" in der Edition Büchergilde erschienen. - Bei Insel stehen "Ringelnatz für Boshafte" und "Ringelnatz für Kinder" zur Auswahl. - Im Fischer-Verlag gibt es "Das große Lesebuch" - bei Herder die Auswahl "Mit Ringelnatz knallvergnügt durchs Leben" - bei Artemis & Winkler die Sammlung "Ein Taschenkrebs und ein Känguru" - bei Aufbau das "Kinder-Verwirr-Buch". - Anekdoten über Ringelnatz versammelt Ulf Annel in "Lass dich ja nicht zum Lachen verleiten" (Eulenspiegel).