Mein Tagebuch

Die Pläne der Berlin-Verwässerer - eine erinnerungslose Stadtmitte

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Jetzt also ein See in die Mitte der Stadt. Hat nicht alles in Berlin einmal mit Fluss, See und Sumpf angefangen? Die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher kann sich aber auch einen Park oder eine steinerne Platte vorstellen.

Mit der wörtlichen Übersetzung ihres Vornamens, die perfekt auf die Aufgabe ihres Amtes passen würde, nämlich verbindliche Regeln für die Entwicklung der Stadt vorzugeben, hat die Schweizerin nichts im Sinn. Sie will nicht sagen, welcher Vorschlag ihr persönlich am besten gefällt, sondern "einen kreativen Denkprozess anschieben". Vergessen scheint, dass alle europäische Stadtbaukunst darauf beruhte, dass der Staat Architekten wie Stadtbewohnern feste Regeln vorgab, zum Nutzen aller: Denn gestalterisch wie sozial gelingende Städte sind nicht die Ansammlung von Kreativität ins Blaue hinein, sondern Ergebnis eines kontrollierten ästhetischen "Konzerts". Dass dort, wo demnächst geflutet werden soll, einmal der dicht bebaute Kern des alten Berlins lag, wen kümmert's?

Die Berlin-Verwässerer blicken so wenig zurück, dass ihnen nicht einmal ein seltsames Déjà-vu auffiel. Aber jedem Kenner des DDR-Städtebaus kam gestern beim Aufschlagen der Zeitung sofort der Gedanke: Hast du so etwas nicht schon mal gesehen?

In der Tat: Auf seinem 33. Plenum im Oktober 1957 hatte das ZK der SED den Auftrag für eine Neuplanung der Mitte Berlins erteilt. Im April 1958 lag das von Gerhard Kosel und Kollektiv gemachte Konzept vor. Der Plan wollte eine bewusste Gegenposition zur "kapitalistischen Ausbeuterwelt des Brückenkopfes Berlin-West" sein und den "Sieg der sozialistischen Gesellschaftsordnung ... zum Ausdruck bringen". Hauptgestaltungsmittel waren ein Hochhaus an der Stelle des Schlosses und drum herum zwei große Seen. Die SED erwartete sich Wundersames von der neuen Mitte: sie würde " alle Werktätigen mit Zuversicht, Mut und Begeisterung erfüllen, die Wankelmütigen aufrichten und den Feinden des Fortschritts ein Dorn im Auge sein".

Dass die deutschen Kommunisten bewusst die Erinnerungen an die alte Stadtgestalt über Bord warfen, kann man ihnen nicht vorwerfen: sie machten Ernst mit dem ideologischen Abschied von aller "bürgerlichen" Vergangenheit der Stadt.

Dass aber nach Jahrzehnten der Rückbesinnung auf die "gemordete Stadt", die einst der große Wolf Jobst Siedler angestoßen hatte, in Berlin wieder so erinnerungslos geplant wird - soll das "mit Zuversicht, Mut und Begeisterung" erfüllen?

Bis morgen,

Ihr

Christoph Stölzl

christoph.stoelzl@morgenpost.de