Bevorzugter Platz für Kleinstplakate dort sind die Regenrohre. Umzugs- und Partywerbung macht die Hauptsache, aber es geht auch politisch zu. "Weltrevolution vorantreiben" - auf dem Foto drei junge Burschen auf einem Sofa. Einer im Tarnanzug mit grüner Haarpyramide. Der in der Mitte hat Hammer und Sichel auf dem T-Shirt und nuckelt an einem Orangensaft. Der Dritte hat den Kopf verhüllt und ein Anti-Atom-Zeichen auf dem Anorak. Darunter geklebt ein Pandabär mit Megaphon: "Überwachung sabotieren! Verschlüsseln, Verkleiden, Verstecken, Maskieren, Spielen, Ausschalten, Bewegen, Auslachen, Verhüllen, Ausstecken, Feiern!" Und: "Wer Graffitis übermalt, verbrennt auch Bücher".
Alle Häuser sind mit Zeichen besprüht, jede Haustüre ist über und über mit Zetteln und Graffiti bedeckt. Im Straßen-Eis sind Sektkorken, Bierflaschen, Jägermeisterflakons, Hundekot, Plastiktüten und vor einer Bar auch Erbrochenes wie in Aspik eingeschlossen. Mitten auf einem - selbstverständlich! - besprühten Rollladen ein mittelgroßes Plakat, dessen Sinn ich erst beim genauen Hinschauen verstehe. "When we kick at their front door" steht da, und drüber sehen wir vor einer Polizeiwache ein Polizeiauto brennen. Aus der Tür blicken zwei undeutlich sichtbare Beamte auf den hoch lodernden "Molotow-Cocktail". Ich habe das bösartige Bild abgerissen und mitgenommen, als Geschichtszeugnis. Auch dies "Berlin 2010".
Ein kleines Mädchen, vielleicht 5 Jahre alt, im offenen Anorak, so dass es ihr eiskalt sein muss, steht an der Ecke und weint. Warum? "Bin hingefallen!" Unter ihren Tränen ruft sie immer wieder "Charly, Charly!" Charly ist eine weiße Terriermischung , die nicht folgt. "Mami hat gesagt, ich soll eine Milch und acht Brötchen holen und dann noch... (denkt nach) zwei Laugenstangen". Aber der Hund will nicht mitgehen, und sie muss hinter ihm herlaufen und da ist sie hingefallen. Wir wandern bis zur Bäckerei an der Ecke und das Mädchen erzählt, dass es Zoe heißt.
Auf der Regenrinne neben der Bäckerei klebt "Mein Lipgloss ist wichtiger als Deutschland!" Ich denke: Deutschland müsste es ja gar nicht sein. Man wäre ja schon zufrieden damit, wenn sich eine Mehrheit für eine ganz normale, halbwegs saubere Straße begeistern könnte.
Bis morgen,
Ihr
Christoph Stölzl
christoph.stoelzl@morgenpost.de