In der Altenpflege lernte ich viel übers Menschen und übers Leben – auch, weil unser Pflegesystem das damals noch zuließ.
Egon war schon ein eigentümlicher Mensch, nüchtern war er sehr friedlich, angetrunken aber echt nicht ohne. Zu Kurt wollte niemand, um ihm bei der Körperpflege behilflich zu sein. Renata war schon recht verrückt, Ronald restlos und Christina war fast jeden Tag zu einem Streit aufgelegt. Niemand wollte mit ihnen arbeiten. Zunächst wollte ich nur während meines Studiums bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Wilmersdorf tätig sein, verlängerte aber nach Beendigung. Denn in einige Menschen hatte ich mich schlicht verliebt.
Und wenn denn nicht die extrem geringe Bezahlung gewesen wäre, ich hätte das wohl sogar noch länger gemacht. Denn Mitte der 1980er-Jahre hatte man für einzelne Patienten noch Zeit. Ich arbeitete überwiegend als Haushaltshilfe, es ging nicht nur ums Putzen und Einkaufen, das Sorgen um die Seele wurde noch großgeschrieben. Für etliche Menschen waren täglich zwei bis sogar drei Stunden vorgesehen.
Lieber Gott, wie viele Toiletten, Badezimmer und Fenster putzte ich während der Jahre. Das gehörte wirklich nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ausflüge, gemeinsame Spaziergänge, zusammen kochen, lange Schachrunden, Theater und Kabarettbesuche, wir brachten unsere Zeit auch besser und kreativ zu. Oder redeten einfach.
Unser erstes Gespräch war deutlich: „Mit mir nicht!“
Egon war Arzt, als solcher hatte er gute Jahre gehabt, nun auch entsprechende Rücklagen. Er trank leider viel und abhängig. Versuchte ich, seine Rationen zu reduzieren, bestellte er einfach große Mengen Alkohol im KaDeWe. Als ehemaliger Ostpreuße orderte er Danziger Goldwasser, auch Wodka, anderen Spirituosen war Egon auch nicht abgeneigt. Seine Küche sah am nächsten Tag stets wie ein Sanierungsfall aus, die Spiegeleier klebten an den Kacheln. Kein einfaches Arbeiten. Ich mochte ihn dennoch sehr!
Kurt hatte viele Jahre im Gefängnis zugebracht, das waren raue Jahre und er wusste sich zu behaupten. Nun machte sein Körper nicht mehr mit, die Kraft war spärlicher, rau war er dennoch und kräftig, zumindest vom Mundwerk her. Meine Kolleginnen bei der AWO hatten Angst vor ihm. Unser erstes Gespräch war deutlich. „Mit mir nicht!“, Kurt schätzte klare Ansagen. Wir kamen danach prima miteinander klar. Er war ein einsamer, alter Mann, mehr im Früher als in der Gegenwart verhaftet. Dabei hatte er sogar milde und humorvolle Seiten.
Das mit Renata war auch nicht einfach. Eine ehemals hochgebildete Journalistin verfiel zunächst langsam, dann rapide, körperlich und auch der Geist machte nicht mehr mit. Heute erkannte sie mich, das Gestern war weg. Trotzdem galt: Womit konnte ich ihr eine Freude machen? Christina und ich dagegen stritten täglich, laut und niveauvoll, wie einige Paare das auch zu tun pflegen. Ich brauchte lange, um zu erkennen: So zeigte sie Nähe.
Fritz schleppte mich jeden zweiten Freitag in die Oper
Ich lernte wirklich viel während dieser Jahre: Über die Geschichte unseres Landes, dieser Stadt, das Leben in und nach dem Krieg, über Güte, Entbehrungen, Bescheidenheit, Lebenskämpfe und das Aufstehen nach Niederlagen, aber auch, wie man eine Spargelsuppe zubereitet oder vernünftig Tee zelebriert.
Fritz schleppte mich jeden zweiten Freitag in die Oper oder Operette, zum Ballett oder in das Theater. Ich ihn in Spelunken. Das war für uns beide besser als ständiges Putzen. Morgens um zwei trug ich ihn feuchtfröhlich angetrunken manchmal die Treppen in der Detmolder Straße hoch. In die dritte Etage!
Ronald war der frühere Chauffeur von Drafi Deutscher. Liebenswert und restlos durchgeknallt. Und leider schon länger querschnittsgelähmt nach einem Unfall. Zwei Prostituierte zu Weihnachten – in der Kolumne „Bitte macht mir die Weihnachtsengel“ habe ich das schon einmal beschrieben.
Mein Fazit: Mit Menschen wurde damals in der Pflege noch nicht im Akkordsystem gearbeitet. Das fühlte sich deutlich besser an. Denn wir sind mehr wert als ein Minutentakt.