So unlösbar das Elend auf der Straße oft wirkt - vielen Betroffenen kann geholfen werden. Wie Harri, Hans und Lothar.
Finden obdachlose Menschen den Weg in ein bürgerliches Leben? – Das werde ich oft gefragt. 13 Jahre habe ich mit meiner Kollegin Claudia im Betreuten Wohnen der Berliner Stadtmission am Chamissoplatz in Kreuzberg gearbeitet, danach sollte man eine Antwort auf die Frage geben können. Wir betreuten dort sehr viele Menschen.
Von Harri W. träume ich auch jetzt noch, viele Jahre später. Ein „Lieblingsklient“! Anfang 40 war er, mit seinen Diagnosen verschone ich Sie, es waren sehr viele. Er war meist durcheinander. Wir hatten uns zuvor in unserer Notübernachtung kennengelernt, er war da bereits über zehn Jahre obdachlos. Vollkommen fertig und dreckig sah er aus, ein Kaspar Hauser in der Großstadt. Man ahnte, seine Kindheit war schwierig.
Um zu reden, half ein Wannenbad. Etliche Krusten waren abzulegen. Harri zog zu uns ein, über Jahre versuchten wir viel mit ihm: Ihn medizinisch „anzudocken“, also Fachärzte hinzuzuziehen, vorzudringen, Vertrauen aufzubauen. Man liebte ihn oder lehnte ihn ab. Verschwand er zwischendurch, tauchte unter, suchten wir ihn in der gesamten Stadt. Mal fanden wir ihn im Wedding, mal in Spandau und bereitwillig ließ er sich dann überreden und kehrte zurück. Um zwei Tage später Hausrat aus der vierten Etage auf den Hinterhof zu werfen. Viele wollten ihn deshalb rauswerfen. Einen Berufsbetreuer gab es zwar damals, Hilfe gab es nicht durch ihn. Kurz: Er machte nichts!
Er blieb verschwunden. Was wohl aus ihm wurde?
Gemeinsam übten wir uns in Geduld und Rücksichtnahme, lernten voneinander. Nach Jahren zog Harri in ein eigene Wohnung, bewirtschaftete diese auch prima, war aber dann plötzlich weg. Er blieb verschwunden. Und oft frage ich mich: Was wohl aus ihm wurde?
Hans (Hänschen) L. war lange alkoholerkrankt, hatte bereits stark körperlich abgebaut, zu Entgiftungen und anderen Hilfsangeboten war er nicht zu überreden. Er war Ende 50, lebte damals in der ersten Etage des Hinterhauses. Manchmal konnte er kaum die Treppen bewältigen. Andere, geeignete Einrichtungen gab es damals vor 30 Jahren kaum. Und so übernahmen wir viele pflegerische Tätigkeiten und nach Jahren zog Herr L. in ein Seniorenheim.
Lothar M. war auch schon schwer körperlich und geistig gezeichnet, bevor er zu uns zog. Allein kam er schon lange nicht mehr klar. Man kann Menschen mit Hilfen auf Spur halten, das mit dem Alkohol wurde auch weniger, manchmal hatte er schlicht vergessen, zu trinken. Er hatte wirklich gute Jahre in der Haus- und Hinterhofgemeinschaft und auch er zog dann mit Ende 60 in ein Seniorenheim.
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Was ist eine erfolgreiche Betreuung, wie definieren wir Erfolg?
Angela und Michael lebten auch bereits länger obdachlos, ein Paar, er Mitte 30, sie Mitte 50. Angela kümmerte sich liebevoll um ihren Partner, der auf sich alleingestellt, stark alkoholabhängig, kaum überlebt hätte. Ihr Lebensmittelpunkt war zuvor München, Berlin war auch ein neuer, gemeinsamer Start. Michael zeigte sich gegenüber Hilfsangeboten und therapeutischen Maßnahmen sehr aufgeschlossen.
Wir hatten ihnen zwei gegenüberliegende Wohnungen gegeben, so konnten sich beide auch mal aus dem Weg gehen. Zu zweit ist besser als allein! Beide blieben bei länger bei uns, berufliche Wiedereingliederung wurde für Michael ein spannendes Thema. Er arbeitete lange als Verkäufer. Gemeinsam mieteten beide eine Wohnung, lebten hier auch länger als Paar. Sie trennten sich dann aber. Das machen andere ja auch. Angela wurde leider wieder alkoholabhängig, starb dann wohl auf später der Straße. Michael dagegen kommt auch nach Jahren gut klar.
Was ist eine erfolgreiche Betreuung, wie definieren wir Erfolg? Abstinenz ist wichtig, ein Job manchmal, ein Dach über dem Kopf. Nicht allein im Rinnstein zu sterben, ist sicher auch ein gutes Ziel. „Meine beste Zeit war die damals dort in Kreuzberg“, sagten einige manchmal nach Jahren. Auch ein Ziel: Eine gute Zeit. Immerhin!