Berlin. Der Anruf kam abends, ich verfolgte gerade ein spannendes Fußballspiel in meiner Stammkneipe. Für Elke Breitenbach gehe ich gerne ans Telefon, sie war zu der Zeit noch Sozialsenatorin: Ein heftiger Orkan war bundesweit im Anmarsch. Die Bevölkerung wurde gewarnt, die Wohnungen nicht zu verlassen. Bäume drohten umzustürzen, herabstürzende Dachziegel wurden zur Gefahr. „Was machen wir mit den obdachlosen Menschen in Berlin, wie können wir sie schützen?“, lautete die Frage meiner Lieblingssenatorin.
Guter Rat ist meist teuer. Hat man aber tolle Menschen an der Seite, geht sogar Unmögliches. Ich setzte mich sogleich mit dem Bahnchef in Verbindung; wir kennen uns, Richard Lutz hat schon oft in der Bahnhofsmission Zoo ehrenamtlich gearbeitet. So kennt er die Schicksale etlicher Menschen, durchaus auch deren Nöte. Ihm das Problem zu schildern, dauerte nicht lange. „Gib mir bitte etwas Zeit.“ 15 Minuten später kam sein Rückruf, der mir die Schuhe auszog: „Alle Bahnhöfe in Deutschland öffnen während des Unwetters ihre Tore für obdachlose Menschen. Um sie zu schützen. Sofort!“ Es ging hier also nicht nur um die Berliner Bahnhöfe. Wow, glücklich bestellte ich mir ein Hefe und vermute, Elke Breitenbach trank zufrieden einen Wein.
Richard Lutz kennt man ja vielleicht, Hans-Hilmar Rischke eher nicht. Er ist etwas der Typ Clint Eastwood, groß gewachsen und imposant. Oft steht er für Recht und Ordnung ein, denn das ist sein Job, er ist Leiter der Konzernsicherheit der Deutschen Bahn. Hier merkt man ihm gelegentlich den ehemaligen Bundespolizisten an. Ihn hatte Richard Lutz übrigens gleich nach meinem Gespräch angerufen. Schicksale von Menschen kennt Hilmar auch, einige prägten ihn.
Also werden Menschen nicht vertrieben, Verantwortung wird nicht delegiert
So weiß er: Manchmal können obdachlose Menschen in Bahnhöfen zum Problem werden. Aber fast immer sind sie auch Menschen, die unsere Unterstützung benötigen. Also werden Menschen nicht vertrieben. So gut es geht, wird ihnen geholfen. Herz und Kopf sind beieinander. Man schaut hin, nicht weg, Verantwortung wird nicht delegiert.
Dass Hilmar später in diesem Jahr gemeinsam mit der Berliner Stadtmission und Auszubildenden des Sicherheitsbereiches über Monate jeden Tag auf dem Marheinekeplatz in Kreuzberg Essen verteilte, habe ich schon einmal erwähnt. Am Anfang der Pandemie war das, als etliche Obdachloseneinrichtungen Angebote deutlich reduzieren mussten. „Wir müssen doch was tun“, so Hilmar damals abends am Telefon. Zehn Minuten später stand das konkrete Angebot. Wir lernten dann übrigens eine Menge auf der Straße. Zum Beispiel, unsere Vorurteile über Menschen zu überprüfen und abzubauen.
Wir werden die Füße nicht stillhalten – auch nicht dürfen
Eines kommt dann zum anderen, aus der Essensausgabe wurde bald ein Baustein in der Ausbildung junger Menschen bei der Bahn. Fairer Umgang mit Obdachlosen. Weil das prima in Berlin klappte, arbeiten jetzt Menschen an der bundesweiten Umsetzung. Übrigens gemeinsam mit anderen Kräften, die auf Bahnhöfen arbeiten – liebe Grüße an die Bundespolizei. Die Gesellschaft, das sind nicht die anderen, das sind wir!
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Die Arbeit ist nicht alles im Leben. Aus einer beruflichen Beziehung wurde Freundschaft, ich mag ihn einfach. Über Fußball können wir stundenlang plaudern. Und manchmal ist verbindet uns auch unsere Unterschiedlichkeit. Hilmar – danke! Die Deutsche Bahn und die Deutsche Bahn Stiftung haben etliches angeschoben und helfen kontinuierlich. Da sind viele dünnhäutig. Dünnhäutig sind wir auch bei der Stadtmission. Zu tun gibt es (leider) noch genug. Wir werden die Füße nicht stillhalten. Auch nicht dürfen. Danke, lieber Gott, für einen wachen Geist und die Gestaltungsmöglichkeiten!
Und noch eine persönliche Anmerkung: Sie lesen mich hier erst in fünf Wochen wieder. Manches lässt sich einfach nicht aufschieben.