Nachtgestalten

Wenn ein Freund nicht mehr ans Telefon geht

| Lesedauer: 4 Minuten
Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Ab wann muss man sich Sorgen um andere machen? Warum Dieter Puhl neulich sehr besorgt durch Berlin fuhr – und wie die Sache ausging.

Das kann schon 300 Euro kosten und ich kenne Menschen, die haben sogar tiefer in ihre Tasche greifen müssen: Der Haustürschlüssel ist verloren und man muss einen Notdienst zum Öffnen beauftragen. Deshalb ist es gut, einen Ersatzschlüssel bei Freunden oder Bekannten zu deponieren. Meinen Schlüssel haben meine Nachbarn Olli und Antje, die über mir wohnen. Und ich hoffe, sie werden auch da sein, sollte ich mal in diese Notlage geraten.

Freud und Leid, aber auch umgekehrt, Leid und Freud liegen manchmal ja dicht beieinander. Orlando (ich habe hier bereits über ihn berichtet) und ich sind seit Jahren befreundet, allzu oft sehen wir uns gar nicht, dafür telefonieren wir häufig miteinander, drei- bis fünfmal pro Woche, manchmal aber auch täglich. Und jeden Tag postet er auf Facebook eines seiner tollen Fotos, begleitet von kleinen, inspirierenden Texten. Ich bin dort ja auch schwer aktiv und wir nehmen auch Anteil an den Beiträgen des anderen. Und für alle Fälle habe ich zur Sicherheit einen Schlüssel für Orlandos Wohnung. Uns ist aber auch klar: Hier geht es nicht nur um einen verlorenen Schlüssel, er lebt allein, es könnte ja auch mal etwas mit ihm sein.

Die Tage zuvor war ich recht abgelenkt, aber letzten Sonntag merkte ich, ich hatte seit Tagen nichts von ihm gehört. Es gab auch nichts von ihm auf Facebook. Bricht ein Mensch mit sehr verlässlichen Gewohnheiten, oft ist das kein gutes Omen. Ich rief ihn an, aber außer der Mailbox gab es keinerlei Reaktion. Auch nach Stunden und weiteren vergeblichen Anrufen gab es kein Lebenszeichen. Wirklich besorgniserregend war das alles. Er ist doch keine 27 mehr! Meine Sorge stieg einfach sehr.

Klagte er in den letzten Wochen nicht über gesundheitliche Probleme?

Unser Freund Hilmar war auch nicht zu erreichen, Freundin Elke hatte auch nichts von Orlando gehört, sie rief seinen Freund Thilo an, der hatte immerhin noch am Donnerstag mit ihm zu Mittag gegessen. Ich halte uns grundsätzlich für besonnen, wir befürchteten aber das Schlimmste. Und danke: Elke wollte mich in den Wedding begleiten, um gemeinsam nach Orlando in der Wohnung zu schauen. „Ich freue mich auf das Paradies und das ewige Leben, es ist doch schön, meinem Schöpfer gegenüberzutreten“, so oder ähnlich drückte Orlando das gelegentlich aus. Gottvertrauen halt. Und klagte er in den letzten Wochen nicht über gesundheitliche Probleme? Sogar mehrfach!

Die Fahrt in den Wedding erschien mir lang, Zeit zum Nachdenken, vieles schwirrte mir durch den Kopf und ich machte mir Vorwürfe, nicht eher an ihn gedacht zu haben. Denn auch dafür sind doch Freunde doch da. Einen Menschen fand ich vor Jahren tot in seiner Wohnung, bei 30 Grad und geöffnetem Fenster hatte er da wohl zwei Wochen gelegen. Den Anblick, den Teppich voller Krabbeltiere, schlimmer aber, den penetrant süßlichen Geruch, richtig vergessen werde ich das nie. Meine Schuhe und die gesamte Kleidung, ich entsorgte abends alles im Müll. Und selbst nach einer halben Stunde unter der Dusche blieb der Geruch. Meinem Freund wollte ich so nicht begegnen!

Deshalb heute nun drei kurze Botschaften

So stand ich schließlich auf dem Bürgersteig vor der Wohnung, sah Elke, die gerade einen Parkplatz suchte, und genau in diesem Moment klingelte mein Handy: „Was ist denn so wichtig, dass du mich fünfmal anrufst?“ Etwas angeranzt hat Orlando mich da schon…

Selten habe ich mich über einen Tadel so gefreut. Einige Minuten später aber saßen Elke und ich glücklich mit ihm auf seinem Balkon, zwei Kölsch und ein Becks alkoholfrei waren auch dabei und unser Freund freute sich sehr über den spontanen Besuch, „fast wie beim Geburtstag“. Er hatte einfach sein Handy leiser gestellt, war etwas abgetaucht und auf Facebook hatte er gerade keine Lust gehabt.

Drei kurze Botschaften heute nun: Erstens, kümmert Euch. Dann mag der liebe Gott doch ruhig noch warten. Und drittens: Orlando und Elke – ich hab’ Euch lieb.