Nachtgestalten

Gelebte Demokratie

| Lesedauer: 4 Minuten
Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Wenn fremde Menschen zusammenleben, läuft nicht immer alles rund. Ein Beispiel aus dem echten Leben.

Eigentlich sollte ich damit genügend Übung haben, oft genug fliege ich ja in den Urlaub: Das Packen meiner Tasche macht mir vor dem Abflug immer wieder Kopfzerbrechen. Meist nehme ich zu viel mit. Viel zu viele Klamotten, hier merke ich, wie eitel ich bin, die Bücher sind auch nicht ohne, ein paar Geschenke für Freunde am Urlaubsort wiegen auch. Ein frisches Vollkornbrot aus der Biobäckerei aber erfreut, frischer Spargel aus Beelitz versetzt Deutsche, die seit 50 Jahren auf Kreta leben, in Verzückung. Nichts gegen den griechischen Spargel, dafür ist das Olivenöl besser. Die Gewichtsvorgaben der Fluggesellschaften möchte ich nicht überschreiten, das wird mir zu teuer.

Alte Damen auf Kreta, die Männer sind ja oft schon lange gestorben, gehen regelmäßig in die Kirche. Und das selbst bei ausgeprägter Frömmigkeit nicht nur zum Beten. Der Pope hat kaum eine Chance durchzudringen, der Gottesdienstraum ist auch Informationsbörse. Oft tauschen sich die Damen auch über uns Urlauber aus. Man spricht griechisch, englisch, etwas deutsch – und über andere Leute. Es wird also geklatscht, ausgiebig rauf und runter. Sehr unterschiedlich sind Lebensbedingungen, Traditionen, Werte, Ansichten. Mit ihren weit über 90 Jahren hat meine Vermieterin Georgia jeden Sonntag gut zu erzählen, bieten wir Gäste doch genügend Gesprächsstoff. Das reicht sogar für kalte Winter.

Clara und Joe zum Beispiel: ein freundliches und ruhiges Paar, beide waren damals Mitte 40. Sie machten zurückgezogen ihr Ding. Früh ging es raus, gerne an den Strand, meist kamen sie erst abends spät wieder. Kannten sich die anderen in der Pension seit Jahren gut, mit Rücksichtnahme auch in ihren Eigenheiten, waren die beiden für uns neu.

„Hilfe, er bringt mich um!“

Folgende Episode blieb mir im Gedächtnis: Eines Nachts weckte mich eine junge Frau, Jana, die ich seit ihrer Kindheit kannte, durch lautes Klopfen und Rütteln an meiner Tür. Es war zwei Uhr, ich brauchte kurz, um mich zu orientieren, dann konnte ich das laute Schreien aus Janas Nebenzimmer zuordnen. „Hilfe, er bringt mich um!“ Mehrfach, laut und verzweifelt. Unser unbekanntes Paar war das. Und man konnte um Clara Angst bekommen! Ich bin ein friedlicher Mensch, fühlte mich aber gefordert und wollte Schlimmes verhindern. Auf mein Poltern an der Tür reagierte niemand. Als ich diese gerade mit Anlauf öffnen wollte, tat sie sich doch noch auf.

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Der Anblick war ungewöhnlich: der Raum war in Kerzenschein getaucht – ein „Darkroom“, an der Zimmerdecke hingen Ketten und andere Utensilien. Clara war nackt und hielt ihren ebenfalls unbekleideten Freund im Schwitzkasten, um ihm ununterbrochen auf den Kopf zu hauen und dabei selbst lauthals um Hilfe zu schreien. Beide sahen mit ihren Ketten und Ringen, die sie trugen, recht fremd aus. So viel Aufmerksamkeit durch uns tat ihrem gemeinsamen Spiel nicht gut. Ende der Vorstellung also. Der Rest der Nacht verlief ruhig und alle schliefen recht ungestört weiter.

Unser Wertekatalog war nicht zu 100 Prozent abgestimmt

Starker Tobak für eine alte Griechin. Auch Georgia bewohnt Räume auf dem Hof. Was würde sie machen? Die Frau ist ja lebenserfahren, 70 Jahre mit Touristen machen flexibel. Und so berief Georgia am nächsten Morgen den „Hofbeirat“ ein und erklärte uns in gebrochenem Deutsch, wir alle mögen über den Verbleib des Paares entscheiden. Das gab dann schon Diskussionen, war unser Wertekatalog doch nicht zu 100 Prozent abgestimmt. Demokratie: Gemeinsam wurde schließlich beschlossen, dass die beiden bleiben durften, sie mussten lediglich in ein etwas abseits gelegenes Zimmer umziehen. Dort konnten sie lauter sein.

Der Urlaub verlief prima weiter – und für Gesprächsstoff in der Kirche war gesorgt. Lediglich ich rätsele noch: Wie haben Clara und Joe ihr ganzes Zeugs eigentlich auf die Insel bekommen? Das wog doch!