Nachtgestalten

Das ist kollektiv unterlassene Hilfeleistung

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Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Wenn immer mehr psychisch kranke Menschen obdachlos werden, multipliziert dies das Leid, meint Kolumnist Dieter Puhl.

Wie lebt ein Mensch, der sich selbst alle Zähne mit einem Schraubenzieher gezogen hat, jemand, dessen Diagnosen seiner Akte beträchtlichen Umfang verleihen? Der keine Gradmesser mehr hat, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, jemand, der manchmal gar seinen Namen vergessen hat, der sich ständig verfolgt fühlt – dessen Persönlichkeit sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung langsam aufgelöst hat?

Lebt er gerade in Tokio oder auf Bali? „Natürlich gut behütet in einer Fachklinik, kompetente und liebevolle Menschen an seiner Seite, die sich um ihn kümmern und ihn therapieren“, werden Sie denken. Und vielleicht auch: „Das kann man doch heilen. Solch ein beeinträchtigter Mensch benötigt doch Fürsorge, man muss sich um ihn kümmern, er hat es bereits schwer genug.“ Leider aber liegen Sie damit gelegentlich falsch. Ich möchte das voranstellen, natürlich geht es mir nicht darum, Menschen wegzusperren! Ich möchte auf ihr Leiden hinweisen, wünsche ihnen eine gute Behandlung, angemessene Hilfen. Denn Menschen können auch wieder gesund werden.

Versagt man diese Hilfen aber, passieren leider manchmal Katastrophen. Und dann geht es vielen Menschen schlecht. Alexander B. (48) hat nicht das Glück eines guten Seins in einer Klinik, sondern lebte drei Jahre lang als obdachloser Mensch auf der Mittelinsel der Bundesallee im Gebüsch. Als Flaschen- und Kippensammler beschreiben ihn die Anwohner. Dann passiert ein Unfall vor seinem Platz, ein Betonmischer überfährt eine Radfahrerin (sie wird im Krankenhaus sterben). B. zieht ein Klappmesser und sticht auf den Lkw-Fahrer ein. Dieser überlebt knapp. Alexander B. ist, das haben Sie in den Medien sicher gelesen, psychisch erkrankt, tickt anders, gefangen in seiner Welt. Das Gericht hat diese Woche seine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus angeordnet. Hier wird er andere Menschen nicht wieder gefährden und, gut so, hier wird hoffentlich nach ihm geschaut.

Maßregelvollzug in Berlin und Brandenburg ist überlastet

„Diese Patienten haben Glück, werden sie dort behandelt, in Fachkliniken ist kaum Zeit für eine gute Genesung“, sagte mir vor Jahren ein pensionierter Leiter der Charité. Ich zuckte zusammen, keine gute Option. Allerdings ist auch der Maßregelvollzug in Berlin und Brandenburg überlastet. An manchen Orten in Berlin beobachteten sie inzwischen, dass 80 Prozent der obdachlosen Menschen dem Anschein nach psychisch massiv erkrankt sind, berichteten kürzlich Berufskollegen von mir, die als Streetworker tätig sind in einem Interview der „Taz“, Überschrift: „Das pure Überleben“.

Sie brauchen dafür allerdings starke Nerven. Menschen seien kaum oder gar nicht ansprechbar und ohne Taschen oder Schlafsack unterwegs, ihnen fehle ein gewisser Grad an Organisiertheit, um überleben zu können, sich um einen Schlafplatz, Essen, Geld, eine Waschmöglichkeit zu kümmern. Sie ernährten sich aus Mülleimern. Es gebe faktisch keine Institution, die auf der Straße Diagnosen erstelle, so die Streetworker. „Das ist nur noch das pure Überleben.“ Auch der 29-Jährige war obdachlos, der 2016 eine Frau am Ernst-Reuter-Platz vor die U-Bahn schubste. Die 20-Jährige starb noch vor Ort.

Auch dieser Täter war psychisch krank, er war gerade erst aus einer Klinik entlassen worden. Selbst wenn es nur wenige, psychisch erkrankte, obdachlose Menschen wären, die fachlich auf der Straße alleingelassen sind, wäre das bereits schlimm. Doch ich ringe um Höflichkeit. Es scheint eine wachsende Mehrheit zu werden. Das hat nichts mehr mit Leben zu tun. Ist es unsere Ignoranz, Inkompetenz, Hilf- oder Fantasielosigkeit, gar Hartherzigkeit? Bei aller Aufklärung, Artikeln und Dokumentationen – eine gehörige Portion Unwissenheit ist auch dabei. Ethisch eingeordnet ist das für mich seit Jahrzehnten aber kollektive, unterlassene Hilfeleistung. Deutlicher bekomme ich das nicht hin.