Nachtgestalten

Wenn der Kollege abends nicht nach Hause geht

| Lesedauer: 4 Minuten
Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung. Er schreibt jeden Freitag an dieser Stelle

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung. Er schreibt jeden Freitag an dieser Stelle

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Nur nicht auffallen, nur nicht hilfsbedürftig werden – viele Menschen in Deutschland leben wie Gordon.

Eine oder einer muss gehen, verliert die Wohnung, so enden leider viele Beziehungen. Sucht, psychische Erkrankungen oder eine schwierige Kindheit, es gibt auch andere Ursachen für Obdachlosigkeit. Die kann unterschiedlich lange dauern. Meist mögen die Betroffenen uns fremd bleiben, wie Menschen von einem anderen Planeten. Das kann mir nicht passieren, denken viele. Gar nicht so fremd und exotisch ist folgende Geschichte, sondern das recht normale Leben.

Gordon ist 32, seine Partnerin 26 und er wollte sie einfach nicht auf die Straße setzen, nachdem die Beziehung nach vier Jahren in die Brüche ging. Also zog Gordon zu seinem Freund Matthias und dort konnte er auch sechs Wochen bleiben, dann wurde es Matthias zu eng. Zwei Menschen in einem 24-Quadratmeter-Apartment, das wird schnell zu viel, hat seine Grenzen. Nach Matthias kam dann Claudius, danach schloss sich Manuel an. Kurze Dauer aber auch hier.

Für kein Geld der Welt wollte Gordon danach aber wieder zu seinen Eltern ziehen. Apropos Geld, Gordon kam klar mit seinem Job, auch mit seinem Einkommen, als kaufmännischer Angestellter konnte er nur keine großen Sprünge machen. Da gab es noch diverse Kredite für Möbel und andere Anschaffungen, selbst sein Dispositionskredit war ausgereizt.

Auf der Straße zu landen – er war doch kein Penner, nicht mit ihm!

Hohe Zinsen waren jeden Monat zu begleichen. Natürlich hatte Gordon sich zwischenzeitlich extreme Mühe gegeben, eine Wohnung in Berlin zu finden, und da das gerade sehr viele tun, aber kaum welche frei sind, war das fast wie eine fiese Diagnose. 1645 Euro für eine möblierte Einzimmerwohnung, das war nicht zu stemmen. Einmal zählte Gordon 85 Menschen, die wegen der Neuvermietung anstanden, insgesamt hatte er sich über 30 Wohnungen in den letzten Wochen angeschaut, das machte ihn langsam mürbe.

Und auf der Straße zu landen, unter Brücken zu schlafen oder in Notübernachtungen – er war doch kein Penner, nicht mit ihm! Sein Bekanntenkreis war klein, alle Möglichkeiten waren ausgereizt. So blieb nur sein Büro. Mit Schlafsack und einem Schließfach für seine Bekleidung ging das leidlich. Wäschewaschen im Salon, einmal wöchentlich ins Schwimmbad, sonst reichte das Handwaschbecken.

Seine Kollegen wunderten sich zwar am Anfang über seinen Fleiß und seinen Arbeitseinsatz, morgens war er immer der erste, abends stets der letzte im Büro. Damit das nicht zu sehr auffiel, fing er an, morgens und abends spazieren zu gehen, dann war er erst um halb neun im Büro und galt nicht mehr als verdächtiger Streber. Teuer war diese Form von Lebensführung übrigens dennoch. Was für die Miete eingespart wurde, ging fürs Essen drauf. Denn Kochen im Büro – das ging nicht.

Gordon hatte Verbündete, sonst wäre alles aufgeflogen

Übrigens hatte Gordon Verbündete, sonst wäre alles aufgeflogen. Die drei Menschen des Putzdienstes zeigten sich verständnisvoll, hatten selbst im Leben bereits einiges erlebt, hielten dicht und die Klappe. Wenigstens hier hatte er Glück und manchmal brachte ihm der „Putzmann“ früh sogar ein belegtes Brötchen mit. Übrigens hätte sich Gordon zwischenzeitlich fast ein altes Auto gekauft, es hätte auch ruhig eine Klapperkiste sein können, es kam lediglich nur auf die Größe an. Eine letzte Option sozusagen.

Viele Menschen in Deutschland leben wie Gordon, die Dunkelziffer ist hoch. Wechselnde Freunde, Umzüge, Auto, Bauwagen, Zelt im Wald – nur nicht auffallen. Nur nicht hilfsbedürftig werden. Hilfen vom Amt, da steht die Scham im Weg und das offizielle Etikett „obdachlos“: ein Mal obdachlos, immer obdachlos. Die fehlenden Wohnungen machen alles nur noch schlimmer, obwohl die Tragödien, die zum Wohnungsverlust führen, schon schlimm genug sind.

Gordon fand inzwischen eine neue Partnerin – die Verkäuferin aus der morgendlichen Bäckerei. Nicht seine Traumfrau unbedingt. Aber immerhin war Platz in ihrer Wohnung.

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