Nachtgestalten

Eine Welt ohne obdachlose Menschen – eine Vision

| Lesedauer: 4 Minuten
Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Kurz vor den Wahlen hat unser Kolumnist noch eine Vision. So könnte es gewesen sein – in einer besseren Welt.

Berlin. Das war keine Katze, eher ein dicker Kater, der da aus dem Sack gelassen wurde. Gestern fand ein Pressegespräch mit allen Spitzenkandidatinnen und Kandidaten der Berliner Parteien im Festsaal der Berliner Stadtmission statt. Dicht vor der Wahl gab es nur ein Thema – „Die Überwindung von Obdachlosigkeit in Berlin vor 2030“! Vorangestellt: Selbst langjährige Pressevertreter hatten Vergleichbares noch nie erlebt, waren restlos überrascht.

Das Podium war gefüllt, neben der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) waren die Spitzen der anderen Parteien vertreten, Kai Wegner (CDU), Klaus Lederer (Linke), Bettina Jarasch (Grüne), Sebastian Czaja (FDP). Als Moderator hatte man Ulli Zelle gewonnen. Das Who’s Who der Berliner Sozialszene war anwesend: Neben anderen entdeckte ich die aktuelle und die vorherige Sozialsenatorin Katja Kipping und Elke Breitenbach (beide Linke), auch das Bundesbauministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen war durch Staatssekretärin Cansel Kiziltepe vertreten.

Stadtmissionsdirektor Christian Ceconi, gute Sitte hier im Haus, begann mit der Tageslosung: Seid stille vor Gott dem Herrn, denn des Herrn Tag ist nahe (Zefanja 1,7). Danach ging es Schlag auf Schlag weiter. Die anschließende Grußbotschaft des Bundespräsidenten mahnte deutlich: Vieles beim Thema Obdachlosigkeit hatte er im Vorfeld über Jahre kontinuierlich angeschoben: „Wir waren schon mal weiter. Wohnungslosigkeit ist eine unterschätzte Notlage in unserer Gesellschaft. Wir müssen unsere Anstrengungen jetzt steigern.“

Ich rieb mir die Augen. Kein Gezänk, keine Parteiinteressen

Es folgte ein Grußwort von Gregor Gysi: „Obdachlosigkeit ist eine unbeschreibliche Ungerechtigkeit und einfach nur schändlich.“ Solches und anderes hatten sich alle zu Herzen genommen, es hatte über Wochen im Stillen Arbeitsgruppen gegeben, mit folgendem Ergebnis: „Egal, wer am Sonntag gewählt wird, wir überwinden Obdachlosigkeit gemeinsam vor 2030 in Berlin“. Ausrufezeichen. Pause. „Jeder Monat, jedes Jahr vorher ist Zugewinn für die, die jede Nacht zu sterben drohen.“

Verstehen Sie das, ich rieb mir die Augen. Kein Gezänk, keine Parteiinteressen, Politik nur am Wohl der Menschen orientiert. Da kenne ich auch anderes.

Die Vizepräsidentin des Bundestages, Katrin Göring-Eckart teilte in einer weiteren Grußbotschaft ihre Eindrücke mit, die sie vor kurzer Zeit im Kältebus gesammelt hatte, auch Gregor Gysi und der Bundespräsident fuhren ja bereits früher mit. Kai Wegner und Sebastian Czaja hatten nach solchen Fahrten schlaflose Nächte, schilderten ihre Erlebnisse eindringlich. Elke Breitenbach, Tränen in den Augen, bedankte sich bei der Arbeit der Stadtgesellschaft für die Arbeit der letzten Jahre: „Die wichtigsten Angelegenheiten sind doch vernünftig und gründlich geplant.“

Die Bezirke stellen nun offensiv Fachärzte ein

Bundesbauministerin Klara Geywitz und Hubertus Heil (beide SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, haben übrigens wichtige Gesetze auf den Weg gebracht, damit auch EU Migranten adäquat geholfen werden kann und landeseigene Wohnungen werden auch zur Verfügung gestellt. Ohne die sei das einfach nicht zu schaffen. Geld für die Prophylaxe, um Obdachlosigkeit im Vorfeld zu begegnen, sei da, Personalmangel hier werde man mit einer Einstellungsoffensive begegnen. Alle bedankten sich beim Finanzsenator für die entsprechende Unterstützung. Last but not least: Die Bezirke stellen nun offensiv Fachärzte ein, um psychisch erkrankte Menschen auf der Straße fachlich zu versorgen.

Die Presse ist verwirrt, ein kleiner Tumult entsteht, alle redeten nun durcheinander, Ulli Zelle hat schwer zu tun, die Szenerie wackelt. Ich höre die Stimme meiner Freundin, sie hat hier doch gar nichts zu suchen? Ihr Finger tippt auf meine Schulter. Die Sonne scheint, die Sangria schmeckt, ich bin in Porto de Soller auf Mallorca kurz eingenickt. Ein Tagtraum, ich schließe die Augen wieder. Zu schön!

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