„Sie liegen uns auf der Tasche. Wir können doch nicht allen helfen. Ab mit ihnen in ihre Heimatländer“. Fallen Ihnen sonst noch ein paar Statements gegen obdachlose Menschen aus dem Ausland ein, die in Berlin und in Deutschland leben? Die schützende Decke der Barmherzigkeit ist klein, einige Menschen helfen wirklich, die Mehrheit aber fordert mehr oder weniger offen Abschiebungen. „Wir können nicht alles den Ausländerinnen und Ausländern geben. Zuerst sind die Deutschen dran.“ Nun sind wenigstens alle Vorurteile komplett.
Juri wuchs in furchtbaren Verhältnissen auf, die Mutter und ihre Lebenspartner waren alkoholabhängig, seinen Vater kennt er gar nicht. Schläge gab es stets genug; hier gab es oft sogar Nachschlag, zu essen gab es immer zu wenig. Dieser Hunger. Die Wohnverhältnisse waren karg, drei Räume für neun Personen, mehrfach drohte die Familie, obdachlos zu werden. Von Beistand unter den Geschwistern war wenig zu spüren, hier wuchsen Einzelkämpfer auf. Menschen, die sich gegenüber Schwächeren zu behaupten lernten. Sonst war da wenig Vorbereitung auf das Leben.
Auch in Deutschland schaut manchmal niemand genau hin
Ist man der der jüngste unter vier Brüdern, war die gebrauchte Hose, die er erhielt, stets restlos hin. Lumpenpack. Oft schämte Juri sich. Zärtlichkeit war Mangelware, Liebe war stets ausverkauft. Juri war ein schlechter Schüler. Er ist zwar nie sitzengeblieben, vermutlich aus Nachlässigkeit, niemand schaute hin. Förderung? Pustekuchen. Niemand hatte einen Plan, das Leben spielte willkürlich mit allen, trieb voran oder schlimmer, hatte alle manchmal einfach vergessen. Leben im Vakuum.
Das kann auch einem Menschen in Deutschland so gehen, dann heißt Juri lediglich Peter, in Russland wieder wieder wären es Nikita oder Sascha. Auch in Deutschland schaut manchmal niemand genau hin; auch hier gibt es Lücken und auch hier noch Menschen am Rand des Randes. Die Wahrscheinlichkeit, dort zu landen, ist aber deutlich geringer.
Der Unterrichtsstoff hieß Überlebenskampf
Zurück zu Juri: Er wurde kein Mathematikgenie, auch kein guter Autoschlosser, gründete keine Familie, hatte keinen Frieden. Keine schützende Hand oder staatliche Institution adoptierte ihn. Fehlanzeige Glück. Langweilig und dumpf, er trank einfach. Wie alle. Erst wenig, als Zwölfjähriger war es eher der Rest aus den Flaschen der Erwachsenen. Er wurde älter, stärker, doof war er doch nicht, nur nicht gebildet. Gangs gab es in Warschau aber zuhauf. Andere Jugendliche wurden seine Lehrmeister und der Unterrichtsstoff hieß Überlebenskampf. Nimm dir, was dir zusteht. Eben auch mit Gewalt.
Kriminalität, das Jugendgefängnis, mehrfach war er auch als Erwachsener in Haft. Um seine Sucht, seinen Konsum von über einer Flasche Wodka am Tag kümmerte sich niemand. Auf den Knast folgte die Straße und das Leben ohne Wohnung. In Warschau ist es im Winter kälter, viele sterben an Erfrierungen, Flaschenpfand gibt es auch nicht. Und als Bettler hast du wenig Chancen, wenn viele nichts haben. Seit fünf Jahren lebt Juri nun in Berlin. Er will einfach am Leben bleiben, nicht wie andere stocksteif erfroren im Park aufgefunden werden. Brötchen in der Bahnhofsmission, Bekleidung bei der Stadtmission, an guten Tagen acht Euro beim Flaschensammeln, das reicht für Alkohol, leidlich für Tabak.
Er nimmt uns etwas weg, meinen viele
Hatte Juri nicht genau davon geträumt, von so einem Leben im „Schlaraffenland“? Ich weiß, das ist böse. Mehrfach wurde er durch Gewalt verletzt, seine Gesundheit ist mit Mitte 40 am Ende, eine Perspektive hat er nicht. Sterben wird er auch in Berlin auf der Straße, nur langsamer als in Warschau vermutlich.
Er nimmt uns etwas weg, meinen viele. Ohne ihn könnten die Bürgersteige unter den Brücken in Charlottenburg endlich verbreitert werden und es wären sogar noch Platz für neue Radwege da, meine ich, wenn ich auf das Leben böse bin. Und manchmal schenke ich mir dann einen weiteren Gin Tonic ein.