Kolumne Nachtgestalten

Handauflegen hilft nicht

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Dieter Puhl
Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Dieter Puhl arbeitet seit 30 Jahren in der Wohnungslosenhilfe der Berliner Stadtmission, seit 2019 führt er die Stabsstelle für christliche und gesellschaftliche Verantwortung.

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

Bis 2030 soll Obdachlosigkeit in Berlin überwunden sein. Es wird geredet und geredet – konkret umgesetzt wird es nicht.

Kurz vor Anfang des neuen Jahres erinnern uns Plakate daran: Die Wahl in Berlin steht erneut vor der Tür. Die Parteien sind hochmotiviert, das ist viel Arbeit, viele Gespräche werden noch auf den Straßen geführt. Einige Wählerinnen und Wähler haben aber keine Lust mehr, ich streite gerade viel im Freundes- und Bekanntenkreis. Verweigern ist die schlechteste Alternative. Und ich schaue, ob nachgeschärft wird. Gibt es neue Ziele, werden Vorhaben konkretisiert? Die Überwindung von Obdachlosigkeit bis 2030 ist für mich ein wichtiges Ziel.

Im niedrigschwelligen Bereich tut sich in Berlin eine ganze Menge. 1074 Plätze in Notübernachtungen standen in der vergangenen Woche in Berlin durchschnittlich für obdachlose Menschen zur Verfügung, 990 davon waren im Durchschnitt belegt. Da ist also noch Luft, es sind nicht alle Plätze belegt, könnte man meinen. Jein! Unter anderem hat es auch mit der Erreichbarkeit zu tun, einige Einrichtungen haben freie Plätze, andere platzen aus allen Nähten. Fachleute vermuten: Steigert man Qualität und Standards, wären wohl mehr Plätze ausgelastet.

„Wohnungslose brauchen auch tagsüber einen Ort, an dem sie sich aufhalten können. Wir müssen mehr für die Obdachlosen tun“, sagt Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke). Erneut öffnete diese Woche das „Hofbräuhaus“ in Mitte für Menschen ohne Wohnung. Der Tagestreff ist deutlich mehr als Essen und Wärme – auch die Beratung der Menschen in der Einrichtung wird großgeschrieben. Danke! Es geht um die Organisation von Schlafplätzen, das Beantragen von Leistungen, auch um medizinische Leistungen. Einige Stunden nach dem Essen zur Ruhe zu kommen, für viele ist das tagsüber eine kleine Oase. Ich finde das gut! Bitte mehr davon, auch an anderen Orten der Stadt!

Fehlendes Personal ist durchaus Ursache für Leid und Elend

Beraten und begleiten wir obdachlose Menschen, stoßen wir aber immer wieder auf zwei Problemfelder. Zum einen sind etliche psychisch erkrankt, es fehlen Fachangebote, Ärzte in den Bezirksämtern, auf der Straße. Handauflegen hilft nicht. Ärzte fehlen seit vielen Jahren, und hier komme ich auf die Wahl zurück. Wann wird das eigentlich behoben, kann Politik hier zielgerichteter gestalten? Fehlendes Personal ist durchaus Ursache für Leid und Elend. Wer übernimmt die Verantwortung?

Immer wieder stellt sich aber auch die Frage: Wohin mit den Menschen, die von der Straße herunter wollen? Pensionen und Einrichtungen sind nur Zwischenlösungen, sie dürfen nicht zu einem „Dauerparkplatz“ werden. Zu einem recht teuren übrigens. Der Vorschlag war doch konkret, zehn Prozent der frei werdenden, landeseigenen Wohnungen diesen Menschen zur Verfügung zu stellen. Damit hätte man Obdachlosigkeit bis 2030 durchaus überwinden können. Nicht nur in Berlin.

Wohnungslosigkeit ist eine unterschätzte Notlage

Es wird aber geredet und geredet, konkret umgesetzt wird es nicht. Wie viele Wohnungen werden in den nächsten Jahren also hier bitte konkret zusätzlich zur Verfügung gestellt? Wohnungslosigkeit ist eine unterschätzte Notlage. Mehr als 260.000 Menschen sind in Deutschland wohl ohne Wohnung, vielleicht 50.000 bringen die Nächte auf der Straße zu, unter Brücken, in Verschlägen oder Zelten. „Auch in Deutschland haben Menschen Angst vor dem Winter – ohne Hilfe werden einige diesen Winter nicht überleben.“: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war bei seinem Besuch der Berliner Stadtmission Mitte Dezember deutlich: „Wir waren bei dem Thema schon mal weiter.“ Mir ging das Herz auf, ich mag klare Worte. Hörte aber jemand zu?

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Eine Wahl bringt Chancen mit sich. Wer die Überwindung der Obdachlosigkeit zur Chefsache machen möchte, darf es nicht bei einigen Angeboten belassen. Hierfür ist ein Ruck und ein Umdenken vieler nötig, alle müssen mitgenommen werden, auch die Bezirke. Wer aber drängelt kontinuierlich?