Dieter Puhl schreibt in seiner Kolumne darüber, warum Leben auf der Straße manche Menschen auch zu Tätern machen kann.
Und wieder wurde ein obdachloser Mensch in Berlin ausgeraubt, und wieder wurde ein Mensch zusammengeschlagen. Es vergeht doch kein Monat ohne solch eine Meldung. Man kann sich empören, viele sind empört, ich bin es auch. Was sind das nur für Menschen, die so handeln, das tun, sich an Wehrlosen vergreifen? Es ist doch eine echte Sauerei, jemandem, der fast nichts hat, den letzten Kram zu klauen!
Gut so, Gott sei Dank, die beiden Täter hat man schnell gefasst. Und jedes Mal hoffe ich auf eine deutliche Strafe. Dann aber: „Die Täter stammen selbst aus dem Obdachlosenmilieu,“ lese ich in dem Artikel und denke „Shit“. Und ich lese das immer häufiger. Es sind nicht mehr so oft die Übergriffe von Rechtsradikalen wie vor Jahren, auch nicht mehr die übermütigen und dummen Schülerinnen und Schüler auf Klassenfahrt in Berlin, die übergriffig werden; nein, arme Socken hauen anderen armen Socken auf die Mütze. In meiner Wahrnehmung nimmt das zu.
Sind obdachlose Menschen eigentlich gewalttätiger, krimineller, böser als andere Menschen?, frage ich mich. Ich habe nicht immer gleich eine Statistik zur Hand, und bitte vergessen wir jetzt mal die Erhebungen zum Erschleichen von Leistungen (Fahren ohne Fahrausweis), bitte auch Delikte wie Ladendiebstähle. Ich will das gar nicht abtun, die Ladenbesitzer um den Bahnhof Zoo machen jeden Tag bittere Erfahrungen, es ist hart, wenn man einen eigenen Wachdienst einstellen muss. Der will schließlich auch bezahlt werden.
Obdachlosigkeit macht dich oft zum Opfer
Ja – alkoholisiert, vom Leben müde und mürbe, gibt es Verletzungen, die Obdachlose anderen Leidensgenossen zufügen. Gelegentlich. Einige zumindest. Da wird schon mal zugehauen. Und ja, nicht alle obdachlosen Menschen sind immer freundlich, herzlich, nicht alle gehören zu den Guten. Sehr viele aber doch, sind lammfromm, freundlich, hilfsbereit, zuvorkommend. Und bleiben wir doch ehrlich, Stinkstiefel gibt es unter allen Menschen. Oder kommen Sie mit allen Nachbarn gut klar, mit allen Kolleginnen und Kollegen?
Mir ist klar, Obdachlosigkeit macht dich oft zum Opfer, man wird beleidigt, bespuckt, verhauen, belästigt, vergewaltigt. Oder ignoriert und übersehen – auch darunter leiden obdachlose Menschen. Zutiefst aber bin ich davon überzeugt, das Leben auf der Straße, die lebensfeindlichen Umstände, die Hoffnungslosigkeit, sie machen Menschen auch zu Tätern. Es ist ja nicht schwer, relativ relaxed und tutti durchs Leben zu gehen, wenn dieses mich ständig verwöhnt, denke ich. Wenn andere von allem nichts haben, habe ich doch von allem viel. Meine Taschen quellen über. Meine Liebsten sind gesund, ich bin es auch – und mein Kühlschrank ist voll.
Es sind doch (überwiegend) alles Opfer
Und dann werde ich traurig, etwas ist mir zum Heulen zumute, und ich werde sogar sauer, denn es sind doch (überwiegend) alles Opfer, arme Menschenkinder. Die Verletzten, auch die anderen.
Und dann denke ich: Lieber Gott, wann bekommen wir das endlich mit den fehlenden Wohnungen hin? Mich tröstet ein wenig: Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) möchte Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen. Das ist die nächste Nachricht am heutigen Tag, die ich lese. Da steht viel von Arbeitskreisen, nach Finnland möchte man fahren, um sich über gute Reformprojekte zu informieren. Das machen seit langen Jahren viele. Von konkreten Wohnungen und nachprüfbaren Zwischenschritten lese ich nichts.
„Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hat sich der Milliardengewinn bei BP verdreifacht“ – das ist die dritte Nachricht, damit verdirbt mir die Zeitung die Laune restlos. Bei anderen Mineralölkonzernen sieht es ähnlich aus. Ich finde das unappetitlich. Manchmal machen es mir die Zeitung und das Weltgeschehen nicht leicht. Genug für heute. Auf den Sportteil habe ich keine Lust, Hertha BSC zieht mich auch einfach runter.