Berlin. Sawsan Chebli Tweets zeigen, warum man erst innehalten sollte, bevor man in den sozialen Medien aktiv wird, meint Christine Richter.
Was für eine Woche. Ich wurde überrollt von den Nachrichten aus Chemnitz, dem Mord an dem 35-Jährigen, den Neonazi-Demonstrationen, den menschenverachtenden Parolen, der überforderten Polizei in Sachsen und dem Justizbeamten, der einen Haftbefehl abfotografiert und weitergegeben hat. Ich habe mir all die Videos und Interviews angesehen und angehört, auch die kurzen Filme, die im Internet und den sozialen Medien, bei Facebook und Twitter, verbreitet werden. Ist das wirklich wahr, dass solche Parolen ungestraft gebrüllt, dass der Hitlergruß im Jahr 2018 in Deutschland wieder gezeigt werden kann? Ich traute meinen Augen nicht – und finde all dies verachtenswert.
Ich verstehe die Empörung und das Entsetzen, ich verstehe jetzt noch besser, was der jüdische Freund kürzlich meinte, als er sagte, alle – ALLE – seine jüdischen Bekannten in Deutschland würden versuchen, ihren Kindern eine Ausbildung im Ausland zu ermöglichen. Und sie sollten bloß nicht Immobilienmakler in Berlin werden, denn dann könne man nicht schnell nach Israel oder in die USA auswandern, viel besser wäre ein Architektur- oder Medizin-Studium. Unvorstellbar? Leider nicht mehr.
Empört hat sich selbstverständlich auch unsere Staatssekretärin in der Senatskanzlei, Sawsan Chebli (SPD). Sie schrieb nach den Neonazi-Aufmärschen in Chemnitz bei Twitter: „Rechte werden immer stärker, immer lauter, aggressiver, immer radikaler, immer selbstbewusster, sie werden immer mehr. Wir sind mehr (noch), aber zu still, zu bequem, zu gespalten, zu unorganisiert, zu zaghaft. Wir sind zu wenig radikal.“ Natürlich hat sie noch die Hashtags #Chemnitz #NoAfD“ angefügt. Als Staatssekretärin.
Große Empörung über Staatssekretärin Sawsan Chebli
Dann war, verständlicherweise, auch die Empörung über Chebli groß. „Zu wenig radikal“? Eine Staatssekretärin also, die zu Gewalt aufruft? Das kannte ich so auch noch nicht. Und ich weiß nicht, wer diesmal mit Frau Chebli gesprochen hat, aber sie hat den Tweet dann doch gelöscht. Dieser war aber schon im Fernsehen gezeigt worden, über Twitter verbreitet und als Screenshot von zig Menschen, die keine Freunde Cheblis sind, gespeichert worden. So ist das in den sozialen Netzwerken. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere ja mal wieder an den Spruch: „Das Netz vergisst nichts.“
Staatssekretärin Chebli hat sich anschließend gerechtfertigt: „1. Hab heute getwittert, dass wir radikaler werden müssen. Meine radikal im Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Angesichts der ekelhaften rechten Gewalt möchte ich das Wort nicht weiter verwenden, weil es als gewalttätig verstanden werden könnte.“ Und es folgte der zweite Tweet: „2. Es darf nur eine Gewalt geben, die des Rechtsstaates. Ich habe den Tweet deshalb gelöscht.“
Die Kommentare, die es dazu gab, die mag man nicht wiedergeben. Ich vermute, Frau Chebli hat auch in diesem Fall die Wirkung ihrer Worte unterschätzt. Und möglicherweise falsch eingeschätzt, was das für Folgen für sie haben könnte. Die AfD hat den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Donnerstag aufgefordert, ein Disziplinarverfahren gegen die Staatssekretärin einzuleiten. Mit der Begründung, sie habe das Mäßigungsgebot für Beamte missachtet, zumal sie die AfD in dem Tweet genannt habe. Ob die Begründung der Senatskanzlei, der Twitter-Kanal werde von Frau Chebli privat betrieben, wohl hinreichend ist?
In sozialen Medien empfiehlt sich ein kühler Kopf
Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass es klüger ist, erst mal durchzuatmen oder eine Nacht darüber zu schlafen, bevor man eine von diesen empörten Mails abschickt. Ein Rat, den ich bis heute beachte – und am nächsten Morgen dann häufig auf eine Mail verzichte und lieber zum Handy greife. Beim Umgang mit sozialen Medien empfiehlt sich ein kühler Kopf erst recht.
Martin Pallgen, der Sprecher von Innensenator Andreas Geisel (SPD), twitterte übrigens Ende der Woche, als der Innensenator wegen Ungereimtheiten im Fall der Generalstaatsanwältin und im Fall Amri mächtig unter Druck geriet: „Für heute Abend halten wir erstmal fest: Ein Innensenator trickst nicht.“ Genau – und Staatssekretärinnen twittern nur privat, und deutsche Autobauer lügen nicht. Auch das haben wir gelernt.