Beginnen wir heute mit einem kleinen Ratespiel. Von wem ist hier die Rede?
Er „saß in einem dunkelroten seidenen Morgenmantel am Fenster … Ich wunderte mich, dass es ihm nichts auszumachen schien, sich derart zwanglos zu geben. Meinen Vorsatz, mit ihm ein Bewerbungsgespräch zu führen, legte ich ad acta. … Er seufzte abgrundtief und erhob sich langsam aus seinem Sessel. Wortlos ging er in das angrenzende Schlafzimmer, zog dort seinen Morgenmantel und unter Stöhnen und Ächzen auch seine Strümpfe aus. ... Dergestalt entkleidet warf er sich aufs Bett, zog schwungvoll die Bettdecke über sich und fragte übergangslos, ob ich mich nicht ebenfalls ausziehen und neben ihn legen wolle. Nö, sagte ich sauer. … Er sei so entsetzlich einsam, murmelte er … und etwas wie, wir sollten jetzt endlich mal fieken. Eine Sekunde lang überlegte ich, warum er wohl fieken statt ficken sagte, und erklärte ihm unmissverständlich, ich hätte einen festen Freund.“
Bei dem Mann im roten Morgenmantel handelt es sich nicht um den wegen seiner sexuellen Übergriffe berüchtigten US-Filmproduzenten Harvey Weinstein. Die hier zitierte Stelle findet sich in dem 2016 erschienenen Buch „Der Herausgeber“ von Irma Nelles. Die Szene, die sie schildert, soll sich 1982 zugetragen haben. Nelles, in den 70er-Jahren Sekretärin beim „Spiegel“, war von ihrem ehemaligen Chef Rudolf Augstein in ein Hotel gebeten worden. Sie hoffte auf eine erneute Anstellung. Er hatte anderes im Sinn.
Dennoch wird Nelles 1984 Leserbrief-Redakteurin bei dem Nachrichtenmagazin und später Augsteins Büroleiterin. Übergriffige Avancen gibt es auch da noch. So schlägt ihr der „Spiegel“-Gründer eine Art amouröser Vereinbarung über „zweimal in der Woche“ vor, die sie zurückweist. Wohl weil sie mit seinen Annäherungsversuchen sehr souverän umgeht, finden die beiden dennoch einen Draht zueinander. Nelles bleibt bis zu Augsteins Tod 2002 dessen engste Mitarbeiterin.
Im Zuge des Weinstein-Skandals waren sexuelle Übergriffe und Sexismus in dieser Woche Titelthema beim „Spiegel“. Seltsamerweise wurde dabei die Geschichte des eigenen Hauses komplett ausgespart. In der vorangegangenen Ausgabe hatte das Nachrichtenmagazin, ebenfalls im Zusammenhang mit Weinstein, immerhin kurz und unvollständig die Erlebnisse der Büroleiterin seines Gründers erwähnt: „Wäre heute noch ein Herausgeber des ,Spiegel‘ denkbar“, fragte es, „der seine künftige Sekretärin zum Bewerbungsgespräch in ein Hotel lädt und sie im seidenen Morgenmantel empfängt, wie es Irma Nelles in ihrem Buch über Rudolf Augstein beschrieb?“ Dass der Herausgeber sogar blankzog und die Bewerberin ungeniert mit seinen erotischen Wünschen konfrontierte, verschwieg der „Spiegel“ schamhaft.
In Redaktionskreisen heißt es, die Redakteurin Beate Lakotta sei kurzfristig beauftragt worden, für das aktuelle Heft mit dem Titel „Macht und Missbrauch“ eine Story über Sexismus beim „Spiegel“ zu schreiben, die aber nicht mitgenommen wurde. Die Autorin soll das Stück inzwischen zurückgezogen haben. Die Zeit für die Recherche sei nicht ausreichend gewesen.
Auf einer Redaktionskonferenz am Mittwoch ging es dann doch noch um Sexismus im eigenen Haus. Man will nun gemeinsam herausfinden, ob es dieses Problem noch gibt. Spricht man mit Redakteurinnen, hat man den Eindruck, dass dies eher unwahrscheinlich ist.
Brisanter könnte eine historische Aufarbeitung des Sexismusproblems beim „Spiegel“ werden, geht es dabei doch um nichts Geringeres als um das fragwürdige Verhalten des Magazingründers. Hat Augstein mit seinen Übergriffen dafür gesorgt, dass beim „Spiegel“ jahrzehntelang ein sexistisches Redaktionsklima herrschte? Obwohl man das Für und Wider einer externen wie auch einer internen Aufarbeitung diskutierte, wurde dazu kein Beschluss gefasst. Offiziell mag sich der „Spiegel“ zu all dem nicht äußern.
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