Die Lebenden & Die Toten

Gemeinsam zum Bestatter

| Lesedauer: 6 Minuten
Andreas Kurtz
Ulrike Lessig ist Vorstand und Sozialarbeiterin beim Verein Be an Angel, der sich um Geflüchtete kümmert.

Ulrike Lessig ist Vorstand und Sozialarbeiterin beim Verein Be an Angel, der sich um Geflüchtete kümmert.

Foto: Christian Schulz

Ulrike Lessig hat ihre Freundin beerdigt und die Mutter nach Berlin geholt. Für das Essen nach ihrer eigenen Trauerfeier hat sie Ideen

Berlin.  Man stöhnt viel zu oft. Aus Selbstmitleid, aus Gewohnheit, aus nichtigem Anlass. Das wird einem klar, wenn man das Kraftpaket Ulrike Lessig kennenlernt und langsam realisiert, welches Pensum die 62-Jährige in ihrem Alltag klaglos, oft sogar mitreißend lachend, absolviert. Und das trotz ihrer starken Bewegungseinschränkung, in deren Folge ihr vor dem Schöneberger Haus, in dem sie wohnt, ein persönlicher Behindertenparkplatz eingerichtet wurde. Ulrike beriet 21 Jahre lang tagsüber als Sozialarbeiterin schwerkranke Menschen auf der Suche nach persönlicher Assistenz. Inzwischen ist sie Vorstand und Sozialarbeiterin beim Verein Be an Angel, der sich um Geflüchtete kümmert. Bevor sie dort morgens mit ihrer Arbeit starten kann, weckt sie ihre 86jährige Mutter und bringt sie in eine Tagesstätte für Demente. „Ich habe meine Mutter nach Berlin geholt, als ich merkte, dass sie öfter mal jemanden braucht. Sie wohnt jetzt bei mir im ehemaligen Zimmer meines Sohnes. Das ist viel Arbeit und eine Herausforderung. Die Tagesstätte ist ein Kindergarten für Demente und für mich die Möglichkeit, arbeiten zu gehen.“ Ihrer Mutter tut die Tagesstätte gut: „Sie geht gern hin. Sie hat dort Kontakt, ihr wird vorgelesen, es kommt jemand, der Musik macht. Fußpflege und Physiotherapie werden geboten. Der Kindergarten von nebenan kommt rüber. Das könnte ich ihr gar nicht alles bieten. Irgendwann gab ich sie mal morgens ab und wurde angesprochen: ‚Du siehst aber auch nicht gerade fit aus.‘ Da hätte ich mich am liebsten in einen der superbequemen Sessel gelegt.“

Die Frage, seit wann sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst ist, weckt Ulrike Lessigs Widerspruch: „Bin ich das? Ich habe immer das Gefühl, ich lebe ewig. Wer soll das denn sonst alles erledigen, was ich mache?“ Ihr Vater wurde 92 Jahre alt: „Bei ihm habe ich das Gefühl, dass er den Endpunkt selbst gewählt hat. Er hatte am Monatsersten alle fälligen Überweisungen erledigt, alles ordentlich abgeheftet. Er war noch beim Arzt, der zu ihm gesagt hatte: ‚Sie müssen sofort ins Krankenhaus!‘ Worauf mein Vater geantwortet hat: ‚Nein!‘ Dann fiel er beim Mittagessen vom Stuhl und war tot.“

Mit einer pauschalen Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen kann Ulrike Lessig nichts anfangen. „Ich möchte alles nutzen, was es gibt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich irgendwann nicht mehr da bin.“ Sie erlebte schon aus der Nähe, wie das ist, wenn der Tod zur unausweichlichen Realität wird: „Vor sechs Jahren habe ich meine Freundin Raffi in den Tod begleitet und war auch ihre Bevollmächtigte. Mit ihr zusammen habe ich alles vorbereitet. Wir waren gemeinsam beim Bestatter, haben wahnsinnig viel gelacht und geweint.“

Die Freundin ist weg, gleichzeitig aber doch noch da: „Ich habe ganz viele Sachen von ihr bei mir und ihre Tochter Lou ist mein Gänsekind.“ Diesen Begriff muss sie erklären: „Ich war bei der Geburt von Lou dabei. Vorher warnten mich Freunde: ‚Auf keinen Fall darf das Kind Dich zuerst sehen!‘ Weil es ja wie bei den Gänsen sein könnte, dass auch so ein Kind auf das Wesen geprägt wird, das es als erstes erblickt. Tatsächlich war es dann ein Kaiserschnitt und ich geriet zuerst in ihr Blickfeld. Deswegen ist Lou mein Gänsekind.“

Als ihre Mama starb, war Lou 13 und hielt die Trauerrede auf ihre Mutter: „Sie wollte das so. Und sie ist ein sehr, sehr schlaues, tolles Mädchen. Sie nahm sich ihre beiden Onkel rechts und links als Stützen dazu. Und sie hat so toll geredet!“

Ulrike Lessig denkt oft an ihre Erfahrungen, die sie als Mitarbeiterin eines Pflegedienstes für Schwerstkranke gesammelt hat: „Da bin ich Menschen begegnet, die jünger waren als ich. Und gesagt haben: ‚Rente? Darüber muss ich mir keine Sorgen machen.‘ Da war kaum Zukunft, aber für mich war das ein guter Job, die letzte Zeit mit diesen Menschen gut zu verbringen. Ich habe immer davon geträumt, mal ein Hospiz zu eröffnen. Weil ich denke, dass ich es den Menschen auf ihren letzten Metern gut gehen lassen will.“

Die aus dem Sauerland stammende Wahl-Berlinerin neigt nicht dazu, sich in irgendwelchen Verhältnissen gemütlich einzurichten: „Wenn ich daran denke, dass ich 62 bin, kommt mir manchmal in den Sinn: ‚Nur noch 20 Jahre? Scheiße!‘ Ich lebe einfach total gerne. Auch wenn ich manchmal denke: Die Zeit fliegt, ich muss da doch viel mehr Sinn reinpacken.“

Sie arbeitet beruflich viel und gerne mit Menschen: „Das macht Spaß. Wenn ich die Geflüchteten sehe, die alle jünger sind als mein Sohn, frage ich mich allerdings manchmal: kriege ich das noch mit, wenn ihr mal Kinder kriegt?“

Andreas Tölke, den anderen Vorstand von Be an Angel e.V., kennt Ulrike Lessig seit der 7. Klasse. Auf seine oft schrullig klingende, aber immer liebevolle Art sagte Tölke mal zu ihr: „Ich will Dich nicht beerdigen.“ Aber darauf wird es nicht ankommen, wenn der Tag gekommen ist und ein Trauerredner gesucht wird: „Ich glaube, wenn er dann noch lebt, werden alle zu ihm sagen: ‚Mach Du das.‘ Mein Sohn würde das auch sagen. Ganz sicher.“

Festlegungen für ihre Trauerfeier hinterlässt Ulrike Lessig nicht. Bis auf das Essen. Das soll aus dem Lokal „Kreuzberger Himmel“ kommen, wo Geflüchtete kochen und servieren. Ulrike Lessig wünscht sich, dass zum Abschied ihre Lieblingsgerichte auf den Tisch kommen: „Das vegetarische Kabsa, Hummus und irakisches Biryani. Da müssen zum Schluss alle durch.“