Berliner Schätze

Wie Gastarbeiter in Berlin zwischen den Welten lebten

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Susanne Leinemann

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1972 lebten fast 60.000 Türken in Berlin, davon 35.000 Arbeitnehmer. Schulen waren oft überfordert, die Sprachprobleme der Kinder riesig.

Drei Studentinnen machen einen wissenschaftlichen Ausflug. Sie fahren mit der U-Bahn nach SO36. „Schauplatz unserer Beobachtungen sind die Straßen rund um den U-Bahnhof Kottbusser Tor im Kiez des Bezirkes Kreuzberg. Kaum haben wir die U-Bahnstation verlassen, merken wir, dass hier die türkische Bevölkerung Berlins scheinbar wirklich am meisten vertreten ist.“ Oh fremde Welt! Eine Herausforderung für die Verwaltungsfachhochschul-Studentinnen. Die Atmosphäre ist ihnen nicht wirklich angenehm, das Essen schon eher. „Am nächsten Kebab-Imbiß können auch wir nicht vorbeigehen, ohne uns einen zu bestellen. Dort sind zwei junge türkische Frauen in ein angeregtes Gespräch verwickelt, während ein türkischer Jugendlicher sich an einem Videospiel übt. Auffallend in diesem Karree die vielen Trödelläden; sie verstärken noch die muffige und modrige Atmosphäre, die die alten, teils sehr dringend renovierungsbedürftigen Häuser verbreiten. In diesem Stadtteil scheint sogar die Luft anders zu riechen. Überhaupt fühlt man sich hier als Randbezirklicher ziemlich unwohl.“

Der Bericht stammt von 1985. Inzwischen ist wohl allen in West-Berlin klar, dass die eingewanderten Türken sesshaft geworden sind. Einwanderung – lange war das Wort tabu in der BRD. Seit 1961 unterhielt die Bundesanstalt für Arbeit mehrere Anwerberbüros in der Türkei. „Gastarbeiter“ wurden gesucht, das Prinzip hieß „Rotation“. Die türkischen Bewerber wurden gesundheitlich untersucht, erhielten eine maximal einjährige Aufenthaltserlaubnis für „BRD und West-Berlin“ und wohnten anfangs meist in Wohnheimen auf dem Werksgelände. Doch Menschen sind kein Material, sie lassen sich nicht einfach „rotieren“. Die türkischen Neu-Berliner mögen es hier, sie wollen länger bleiben. Und nicht nur das. Ihre Familien ziehen nach, die heruntergekommenen Wohnungen in Kreuzberg – meist mit Ofen, selten mit Bad – sind bezahlbar. 1972 leben schon fast 60.000 Türken in Berlin, davon sind 35.000 Arbeitnehmer.

In der Türkei gibt es keine Kindergarten-Kultur wie in Berlin

Ein Zuzugsstopp für Kreuzberg, Wedding und Tiergarten wird erlassen, denn „bei ungehindertem Fortschreiten der Ballung“ drohe dort ein Kollaps der Infrastruktur. Die Schulen in diesen Vierteln sind total überfordert, die Sprachprobleme der Kinder riesig. „Seit 1969/70 bis 1982/83 ist ein zehnfacher Anstieg ausländischer Schülerzahlen zu verzeichnen.“ Ein bis heute bekanntes Problem: Die türkischen Kleinkinder besuchen keine Kita. Weil Plätze fehlen, aber auch, weil es in der Türkei keine Kindergarten-Kultur gibt. „Bekommen ausländische Arbeitnehmer keine Plätze in Kindertagesstätten, schließen sie oft ihre Kinder tagsüber in der Wohnung ein oder lassen sie auf den Straßen herumstreunern. Das sind keine Einzelbeobachtungen, sondern Jugendämter, Betreuungsorganisationen und Polizei berichten ständig gleichermaßen davon“, steht in einer Studie über „Berliner junge Ausländer“ von 1985.

Alles, was der Zuzugsstopp bringt, ist ein reger Handel mit Scheinadressen. „Die Zahl der Türken in Berlin muss kleiner werden“, fordert 1980 der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker verzweifelt. Der Satz wird ihm heute noch vorgehalten. Aber es ist eher Hilflosigkeit. Zumindest spricht er das Thema mal offen an. Der „Tagesspiegel“ berichtet 1979, 15 Prozent der türkischen Kinder im schulpflichtigen Alter in Kreuzberg gingen gar nicht zur Schule. Manche sagen, es seien sogar 20 Prozent. Die Zustände in Kreuzberg sind unhaltbar. Über zehn Jahre hat man jede Form der Integration verschleppt.

Viel zu lange hat die Politik das Problem verdrängt und sich eingeredet, der Aufenthalt der Türken in Berlin sei nur vorübergehend. Endlich sieht man in der Senatskanzlei ein, dass gehandelt werden muss. Statt von „Rotation“ redet man 1980 über ein „bedarfsorientiertes Integrationsmodell“. Das klingt schon anders. Aber was konkret tun? Erstmal eine Umfrage!

Fast 5000 Berliner Haushalte im Westen der Stadt werden im September 1979 von der Senatskanzlei angeschrieben und „zur Ausländerintegration in Berlin“ befragt. Und damit es gerecht zugeht, erhalten auch 5500 Ausländer, die in Berlin leben, einen Brief – meist Türken, aber auch Jugoslawen und Griechen – und werden zu ihrer eigenen Integration interviewt. Viele Briefe werden beantwortet.

Zehlendorfer zeigen sich offenherzig

Und das Ergebnis der Befragung? Es sagt viel darüber, wie moralische Meinungen entstehen. Denn nur in einem Teil der Stadt sind die Menschen wirklich großzügig und offenherzig den türkischen Neu-Berlinern gegenüber. Wo wohl? Na, in Zehlendorf! 52 Prozent der befragten Zehlendorfer, heißt es 1979, würden ihre Kinder sofort mit türkischen Kindern spielen lassen, 36 Prozent zeigen sich offen für intensiveren Kontakt mit türkischen Familien, und 33 Prozent würden gern ihre Wohnzimmertür öffnen, um Gastarbeiter mit Kaffee und Kuchen zu bewirten. Satte 62 Prozent der Befragten aus Berlins Südwesten, wo es grün und teuer ist und die schönen Villen stehen, finden, dass der Familiennachzug aus der Türkei unumschränkt erlaubt werden müsse. Gleiche Sozialleistungen, Nicht-Ghettoisierung, gemeinsame Schulausbildung mit deutschen Kindern – in Zehlendorf ist man sehr dafür.

Dagegen der Wedding – das glatte Gegenteil. „Betrachtet man die Verhältnisse in den einzelnen Bezirken, so stellen sich die Befragten in Zehlendorf und Wedding – nicht durchgehend zwar, im Prinzip aber doch – als Antipoden dar: Die Antworten aus Zehlendorf (und mit etwas Abstand diejenigen aus Wilmersdorf) geben sich am großzügigsten, die aus dem Wedding am zurückhaltendsten.“ In Wedding, Reinickendorf, Tiergarten und Neukölln lehnen um die 40 Prozent der Befragten eine Intensivierung der Kontakte mit Gastarbeitern ab, in Kreuzberg sogar 46 Prozent. Nur 28 Prozent im Wedding wollen nachbarschaftliche Bande knüpfen, und eine Einladung in die eigene Wohnung ist in Wedding für fast jeden zweiten „nicht ohne weiteres denkbar.“

Die Senatsstudie stellt schnell klar, was in Wedding das Problem ist: Die Leute seien weniger gebildet als die in Zehlendorf, sie hätten schlechtere Schulabschlüsse, miesere Jobs, weniger Geld und kleinere Wohnungen. Klar, dass die dann muffelig und fremdenskeptisch sind. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Zehlendorfer haben gut reden. Die kennen doch überhaupt keine Türken, höchstens den türkischen Botschafter und seine Gattin. Nur 10 Prozent beträgt damals der Ausländeranteil in Zehlendorf, die meisten davon sind Amerikaner. Dagegen haben in Wedding und Kreuzberg 40 Prozent der Befragten ausländische Nachbarn, meist türkische. In Wedding und in Kreuzberg weiß man ganz konkret, wovon man redet und kennt auch die Probleme. Auch die Studie muss zugeben: „Die „großzügigen“ Zehlendorfer haben kaum Ausländer um sich – die „zurückhaltenden“ Weddinger und Kreuzberg dagegen sind viel stärker durch die „physische Nähe“ von Ausländern „betroffen“.

Man kann natürlich immer einen Fremden großzügig zum Kaffee einladen, solange man ganz sicher ist, dass der nicht kommt.

Die große Mehrheit will in Berlin bleiben

Und die Ausländer, was sagen die? Von 2800 befragten türkischen Haushalten antworten über 80 Prozent. Die große Mehrheit will in Berlin bleiben, auf Dauer. Nur 10 Prozent geben an, ihr Aufenthalt sei vorübergehend. Drei große Probleme beschäftigen sie: die schlechte Wohnsituation, fehlende Bildung für die Kinder und die harte Arbeit. Kontakt mit Deutschen hat kaum jemand; von 100 befragten Türken nur sechs. Dabei hätten viele Interesse daran. Wäre da nicht die Sprache. 74 von 100 finden, dass ihre Deutschkenntnisse besser werden müssten, aber 81 von 100 Befragten geben zu, dass sie dafür noch nichts unternommen haben. Das sind andere Ergebnisse als bei den befragten Griechen und Jugoslawen, die häufig gut deutsch sprechen und auch oft deutsche Bekannte haben. Woran das liegt?

Allein an der Nachbarschaft. Während sich die türkische Gemeinde ein kleines Istanbul in Kreuzberg geschaffen hat, in dem man sich problemlos ohne Deutschkenntnisse bewegen kann, wohnen die Griechen und Jugoslawen oft in Häusern mit lauter deutschen Nachbarn. Da muss man deutsch sprechen, das übt.

Man schaut sich diese alten Senatsstudien an und wundert sich. Alle Probleme waren von Anfang an da. Alles wurde klar erkannt. Aber viel zu lange geschah nichts. Auf dem Papier werden große Ansprüche einer „bikulturellen“ Erziehung formuliert – „neben dem Besuch der Berliner Schule muss muttersprachlicher und landeskundlicher Unterricht gewährleistet werden, um eine nationale Entfremdung zu vermeiden, solange eine Rückkehr nicht ausgeschlossen erscheint.“ Aha. Und die Folge? Jugendliche, die zwischen den Welten leben – keine richtigen Deutschen, keine richtigen Türken – und deren schulische Leistungen katastrophal sind, weil sie keine der beiden Sprachen richtig beherrschen. „Halbsozialisation“ nennt man das. Der überwiegende Teil der Kreuzberger türkischen Jugendlichen landet so auf der Hauptschule, über 70 Prozent verlassen die Schule 1979 ohne Abschluss.

Sehenden Auges gegen die Wand. Das war damals so. Und so ganz anders ist es heute nicht.

Dank an das Regionalgeschichtliche Archiv des Museums Friedrichshain-Kreuzberg.