Es war eine kleine Szene am Rande des Empfangs zu 120 Jahren Berliner Morgenpost. SPD-Fraktionschef Raed Saleh kam ins Restaurant „Neni“ am Breitscheidplatz und steuerte gleich auf die BVG-Vorstandsvorsitzende Sigrid Nikutta zu. Beide waren Gäste beim Empfang dieser Zeitung. Aber Saleh nutzte die Gelegenheit, um zu arbeiten. Man müsse über die Obdachlosen reden. Wie könne er der BVG helfen. Mit Sozialarbeitern, mit Unterkünften. Die BVG-Chefin reagierte vorsichtig. Nein, es gehe um etwas Grundsätzliches.
Anfang der Woche hatte Nikutta dieser Zeitung gesagt, dass die BVG in diesem Winter nicht mehr ihre Bahnhöfe für Obdachlose öffnen will. Die Berliner Verkehrsbetriebe sahen sich als Landesunternehmen lange Jahre in der sozialen Pflicht, etwas für die Ärmsten der Armen in den kalten Wintertagen zu tun. Das Unternehmen öffnete an besonders kalten Frosttagen zwei bis drei Bahnhöfe, um Obdachlosen eine Übernachtungsmöglichkeit zu geben. Das war eine generöse Geste. Doch seit spätestens dem vergangenen Winter hat sich die Lage geändert. Früher, so erzählen es BVG-Mitarbeiter, kannte man die Obdachlosen, die in den Bahnhöfen übernachteten, fast persönlich. Seit einiger Zeit allerdings kommen immer mehr Menschen, viele aus Osteuropa, die in Berlin stranden. Häufig auf der Suche nach Arbeit, landen sie irgendwann auf der Straße, werden alkohol- oder drogensüchtig. Es sind kranke Menschen, die Hilfe brauchen. Aber ist dafür die BVG zuständig?
Das Landesunternehmen hat als Auftrag, die Berliner und die Touristen durch die Stadt zu bringen, in sauberen, sicheren Zügen und Bahnhöfen. Darauf haben die Kunden, die Geld für ihre Fahrkarten bezahlen, einen Anspruch. Und als BVG-Chefin hat Nikutta auch die Aufgabe, sich um die Mitarbeiter zu kümmern. Sie sollen sicher, ohne Angst zu haben, zur Arbeit gehen können.
Es gibt auch Probleme mit der Sicherheit auf den Bahnhöfen, wo nachts die Starkstromleitungen weiter genutzt werden. Zudem hat die BVG-Vorstandsvorsitzende recht, wenn sie sagt, dass es auch menschenunwürdig ist, auf Bahnhöfen zu übernachten. Ohne sanitäre Anlagen, ohne echte Schlafplätze, ohne Sozialarbeiter, die sich kümmern können.
CDU und FDP kritisierten Nikutta hart. Man brauche weiterhin die Bahnhöfe als Notreserve. Auch Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), zuständig für die Obdachlosen in der Stadt, schickte ihren Staatssekretär, um ein Gespräch mit Nikutta zu führen. Unterstützung erhielt die Vorstandsvorsitzende von ihrer Aufsichtsratschefin, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop. Wohnungslosigkeit sei ein wachsendes soziales Problem, das sehe man nicht nur in U-Bahnhöfen, sondern insgesamt im öffentlichen Raum, beispielsweise in Parks und Grünanlagen. Pop verwies auf die Anstrengungen der vergangenen Jahre. Berlin habe im Rahmen der Kältehilfe weitere Notschlafplätze aufgebaut. Um dann einen kleinen politischen Seitenhieb auf die Linkspartei abzugeben: Es würden aber darüber hinaus Aufenthaltsmöglichkeiten wie Tagesstätten zu jeder Jahreszeit dringend gebraucht. Hier sei die Sozialverwaltung gefragt – eben die Verwaltung, die durch Breitenbach und die Linkspartei geführt wird. Und so ist auch die Frage des BVG-Vorstoßes zu den Obdachlosen am Ende eine politische. Was sollen Landesunternehmen leisten? Welche Aufgaben sollen sie jenseits ihres Kerngeschäftes übernehmen?
Für Pop ist klar: Die BVG werde ihren Beitrag zur Unterstützung der Kältehilfe leisten. „Aber grundsätzliche Lösungen zur Wohnungslosigkeit kann nicht Aufgabe der BVG sein“, so die Senatorin. Interessanterweise erhielten Pop und die BVG Zustimmung auch von Expertenseite. Die Stadtmission ist ebenfalls der Ansicht, dass U-Bahnhöfe kein Ort für Obdachlose sind.
Am 10. Oktober soll es nun eine Strategiekonferenz zur Wohnungslosigkeit in Berlin geben. Ihr Ergebnis muss sein: mehr Hilfe für die Obdachlosen, aber auch Verständnis für die BVG.
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