Berlin. Historiker Michael Wolffsohn kritisiert fehlenden Kampf gegen Judenhass. Senat und Abgeordnetenhaus gedenken der Pogromnacht.
Der Historiker Michael Wolffsohn hat Deutschland Staatsversagen im Kampf gegen Antisemitismus vorgeworfen. Der heutige Antisemitismus auf verschiedenen Ebenen stehe in der Kontinuität deutscher Nachkriegsgeschichte, sagte Wolffsohn auf der Gedenkstunde des Abgeordnetenhauses und des Senates anlässlich des 85. Gedenkens der Reichspogromnacht vom 9. November 1938. An der Gedenkstunde nahmen auch Berlins Ehrenbürgerin, die 102-jährige Margot Friedländer, und eine Delegation von Eltern und Angehörigen von Kindern teil, die am 7. Oktober von palästinensischen Terroristen entführt worden sind.
„Bundeskanzler Olaf Scholz lenkt vom Staatsversagen ab, wenn er an die Zivilcourage appelliert“, sagte Wolffsohn. Er zweifle nicht an der Schutzwilligkeit des deutschen Staates für die jüdische Bevölkerung. „Aber kann er es auch“, fragte der Historiker vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Angriffe gegen jüdisches Leben und den Staat Israel.
Wolffsohn verwies auf eine antisemitische Kontinuität in der deutschen Nachkriegsgeschichte
Wolffsohn zeichnete ein düsteres Bild des mehr oder weniger schleichenden Antisemitismus der vergangenen Jahrzehnte, in denen es immer wieder verstörende antisemitische Äußerungen, oder naives Wegsehen gegen Judenhass von deutschen Politikern gegeben habe. Dabei spannte Wolffsohn einen Bogen der deutschen Bundeskanzler von Willy Brandt, über Helmut Schmidt und Helmut Kohl bis zu Olaf Scholz.
„Keiner der Akteure führte zu neuem Judenhass, aber doch waren sie alle Etappen der Radikalisierung und der Etablierung eines neuen Judenhasses“, sagte Wolffsohn. Zwar sei die Existenz des Staates Israels deutsche Staatsraison, aber immer wieder ließen führende deutsche Politiker entsprechendes Handeln auch vermissen. Sei es, dass der damalige Bundeskanzler Willy Brandt 1970 davon sprach, Israelpolitik künftig „ohne Komplexe“ zu führen, oder Helmut Kohls Regierungssprecher später in Saudi-Arabien sagte, deutsche Außenpolitik dürfe nicht von der Geschichte überschattet werden.
Dazu kommt nach Überzeugung Wolffsohns ein importierter Antisemitismus aus der muslimischen Welt, der sich nach dem Terroranschlag der Hamas in Israel nicht nur auf Berlins Straßen Bahn breche. Das sei auch das Ergebnis einer naiven Migrationspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Jahren 2015 und 2016 - aber auch Ausdruck einer historischen Kontinuität deutscher und palästinensicher Kooperationen und Kolaborationen, bei denen nicht oder nicht ausreichend auf antisemitische Signale reagiert worden sei.
Bildung ist kein Allheilmittel gegen Antisemitismus
Zu glauben, Bildung sei das Allheilmittel gegen Antisemitismus, ist nach Auffassung Wolffsohns naiv. Auch hier spann er einen historischen Bogen: „Voltaire - die Ikone der deutschen Aufklärung - war ein übler Antisemit.“ Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 seien es die meisten Wissenschaftler gewesen, die zu den sogenannten Märzgefallenen gehörten und sich schnell mit dem Nazi-Regime arrangierten.
Antisemitische Ausfälle habe es in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder in Universitäten gegeben, sei es in Berlin, Paris oder den USA. Er selbst sei bei einer Veranstaltung an der FU als Faschist verunglimpft worden, weil er sich für die Interessen Israels eingesetzt habe. „Herzensbildung“ sei keine Frage der Bildung, sondern viel eher bei sogenannten Ungebildeten anzutreffen. Wolffsohn lehrte zwischen 1981 und 2012 an der Bundeswehrhochschule in München.
Rabenschwarz werde seine Ansprache, hatte Wolffsohn zu Beginn seiner Rede angekündigt. Am Ende schlug er aber auch versöhnliche Töne an. „Trotz allem ist die Bundesrepublik ein gutes Deutschland, das Beste, das es je gab.“ 1933 habe sich Deutschland falsch entschieden und dem Land sei es danach schlecht gegangen. 1945 habe sich Deutschland richtig entschieden und dem Land sei es gut gegangen. „Heute steht Deutschland wieder vor der Wahl - wie wird es sich entscheiden“, fragte Wolffsohn zum Abschluss seines Vortrags.
Der Regierende Bürgermeister gedachte der Opfer des 9. November
Zuvor hatten auch Parlamentspräsidentin Cornelia Seibeld und der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) den Opfern der Pogromnacht vor 85 Jahren gedacht. Die Ereignisse rund um die Pogromnacht seien Ausdruck kollektiven menschlichen Versagens, sagte Wegner. Die wenigsten Berlinerinnen und Berliner seien eingeschritten, als das Morden, Plündern und Verschleppen am 9. und 10. November 1938 stattfanden.
Wenn es heute heiße, so etwas dürfe nie wieder geschehen, könne es nur eine Konsequenz geben. „Jeder Einzelne muss handeln, bevor es wieder zu spät ist“, sagte Wegner. Jüdisches Leben in der Stadt sei ein wahres Glück, das es zu schützen gelte.. „Jetzt geht es darum, dass wir alle gemeinsam Haltung zeigen. In Berlin darf es keinen Platz für Antisemitismus geben, egal aus welcher Richtung.“