Das Berliner Kriminalgericht, 1906 als „neues“ Kriminalgericht damals noch vor den Toren Berlins eröffnet, war in den vergangenen 109 Jahren Schauplatz zahlreicher Dramen. Der Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt, stand hier vor Gericht, genauso wie der Maler George Grosz, der wegen Blasphemie angeklagt war. Mit Erich Honecker und dem DDR-Politbüro saß gleich eine ganze Staatsregierung auf der Anklagebank. Morgenpost-Redakteur Jens Anker war viele Jahre lang als Gerichtsreporter tätig. Mit seinem jetzt erschienen Kriminalroman „Schatten über Moabit“ setzt er dem größten Justizkomplex Europas ein Denkmal. Wir dokumentieren das erste und vierte Kapitel, des Romans – stark gekürzt.
Und dann ist mir Staatsanwalt Strunz vor die Füße gefallen.
Den ganzen Tag über hatte ich mich durch dicke Pappordner gewühlt. Draußen kochte die Sonne die Stadt gar. Sie hatte ein Zelt aus Hitze aufgestellt. Ich saß im stickigen Amtszimmer und wälzte Akten. Das, was sie einem Azubi so gaben. Scheißfälle, in denen alles klar war. Tausend nichtssagende Zeugen, eine kleine Gang, ein paar Waffen waren vielleicht auch im Spiel, jede Menge Spuren. Und vor allem jede Menge Uniformierte, die alle Zeit der Welt hatten, auch das letzte Fitzelchen des Universums nach den Regeln der polizeilichen Kunst durchzuackern.
Ich bin Jurist. Fast. Nach all dem Quatsch an der Uni muss ich mich in der Praxis bewähren. Und drei Monate lang in der Staatsanwaltschaft hocken. Das ist so Sitte bei den Rechtsleuten. Vorher darf niemand die Robe umwerfen und sein eigenes Ding drehen. Beim Gericht war ich vorher. Hinterher geht’s zu den Anwälten. Keiner weiß mehr so genau, warum das so ist, aber geändert hat sich seit hundert Jahren nichts. Alles bleibt wie immer. So ist das hier.
Jedenfalls hab ich Strunz’ letzten Meter im Zeitraffer erlebt. Der Körper huschte wie ein Schatten im Augenwinkel vorbei. Er schlug auf. Es gab keinen Schlag. Nur ein Knirschen. Strunz wollte diesen Aufprall nicht akzeptieren, schien mir. Sein Körper ploppte auf den Boden – und sprang wieder auf. Dabei stellte er seine Glieder in Winkel, die er ein paar Sekunden früher sicher selbst nicht für machbar gehalten hätte. Der rechte Arm verschwand hinterm Rücken, der linke stach in die Höhe, und die Beine schossen gegen die schöne Kuppel der Eingangshalle des Gerichts. Strunz kam mir in dieser Phase seines Daseins sehr komplex vor. Kurz vor dem Ende zwirbelte er sich noch einmal halb um die eigene Achse. Ich glaube, er rang um die letzte Ordnung in seinem Leben, wie es sich für einen Staatsanwalt gehörte, bevor er sich zur vorletzten Ruhe direkt vor mir auf die kalten Kacheln der Halle verteilte.
Die Polizei nennt das Fundort. Ich nenne das eine Schweinerei.
Dabei war die Halle des Kriminalgerichts ein ganz schöner Ort, um zu sterben. Besser jedenfalls als irgendeine Kreuzung, auf der ein volltrunkener Autofahrer nachts Maß nahm und dann, nach seinem Volltreffer, in der Dunkelheit verschwand. Oder ein Krankenhaus, in dem man zwischen Dutzenden anderen am Fließband krepierte.
Die Halle des Moabiter Kriminalgerichts war groß und würdig. Sofort hinter dem Eingangstor versiegte der Lärm, der von der Turmstraße kam. Auch wenn viele Leute da waren, blieb es still.
An der Stirnseite schloss sich eine gewaltige Treppe an, die in alle Richtungen und in die oberen Stockwerke führte. Von der ersten Galerie aus ließ sich das Treiben am Eingang gut beobachten: die Menschen, wie sie in Erwartung eines Fehlurteils reinkamen oder wie sie, je nachdem, ob bestraft oder freigelassen, niedergeschlagen bis wütend oder glücklich wieder rausgingen.
Von ganz oben aus verschwamm die Wahrnehmung. Da krabbelten die Leute da unten nur noch rum. Hin und her. Sie verloren ihre Eigenarten. Die Glatze des Oberverwaltungsassessors Krüger blitzte genauso wie die des fiesen Zuhälters Schumann. Von hier irgendwo muss der Oberstaatsanwalt jedenfalls seinen Abgang gemacht haben. Vielleicht ist er selber gesprungen. Vielleicht hat jemand nachgeholfen.
Seine Sache.
Und plötzlich auch meine.
Ich war gerade dabei, den Wahnsinn um mich herum zu begreifen, als die Wachtmeister vor mir standen.
„Alarm!“, rief einer. Das hörte ein anderer, der an der Eingangskontrolle saß und auf das rote Knöpfchen unter der Sichtblende drückte. Im ganzen Haus rasselte es sofort los. Endlich kam die Polizei. Sie deckten Strunz zu, sperrten die Halle ab und brachten mich hoch.
Von unserer Seite aus fand sich so schnell niemand, der seinen Kopf hinhalten wollte. Die Zuständigkeit war ja noch nicht geklärt. Und was für die Geistlichen die heilige Dreieinigkeit ist, das ist für den Juristenbeamten die Zuständigkeit. Es ist schlichtweg nicht vorstellbar, dass jemand eine Initiative ergreift, ohne zuständig zu sein.
Die Jungs von der Polizei sehen das nicht so eng. Da ist jeder zuständig, der dem Verbrechen gerade ins Auge sieht.
Es war dunkel, als ich das Gericht verließ. Vielleicht halb elf.
***
„Das is ‘ne Scheißgeschichte", sagte Moritz, nachdem ich alles erzählt hatte. „Aber geil.“
Wir tranken Bier. Der Wind wehte einen Hauch von Kamelscheiße aus dem Zoo herüber. Wir saßen im Schleusenkrug.
„Pass auf, Robert“, sagte er. „Die dreh’n das Ding so, dass du am Ende der Arsch bist.“
„Ich weiß nicht“, sagte ich.
Ich wusste wirklich nicht. Ich trank schnell. Um die Unruhe in mir zu betäuben. Ich holte noch eine Runde Bier. Und noch eine. Dann war Moritz dran.
„Ich meine, hier geht es nicht um irgendetwas, sondern um Leben und Tod. Der Typ ist da einfach runtergeklatscht. Das ist kein Spiel, sondern echt.“
„Das ist echt. Ja.“
„Sieh’s doch mal so: Wer kann schon von sich behaupten, in einem Krimi mitzumachen? Du siehst das jetzt alles von innen. Das ist doch irre. Du hast ‘ne Hauptrolle. Irgendwie wollen wir doch alle eine Hauptrolle. Und die haste jetzt.“
„Hey, ich will aber keine Hauptrolle in dem Stück ,Oberstaatsanwalt Strunz klatscht auf die scheiß Kacheln im Moabiter Kriminalgericht und ist tot’ spielen. Ich will wenigstens gefragt werden, ob ich eine Rolle will.“
Moritz beobachtete mich. Er wollte in mich reinsehen. Ergründen, was geschehen war. Er brachte zwei neue Biere.
„Mann, das is ein geiler Sommerabend, und wir tun so, als ob hier grad Tschernobyl hochgeht. Wir sitzen hier im Wald, zusammen mit hundertsiebenundfünfzig Leuten, die auch was erleben in ihrem Leben, sich auch was zu erzählen haben, und darüber nicht schwermütig werden. So is das nun mal.“
Gelb, rot, orange. Die Lichterketten im Biergarten wiesen mir den Weg an den Tresen. Ich schloss die Augen, während ich auf die Gläser wartete. Das Stimmengewirr beruhigte mich.
„Acht fuffzich.“
Ich zahlte und lief zurück an unseren Tisch.
„Was soll’s. Was soll das bisschen Aufregung um einen toten Staatsanwalt? Lass uns trinken.“
Filmriss.
Keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin.
***
Am Morgen wollte ich zu Weber gehen und ihm sagen, dass ich raus sei. Dass Strunz’ Ableben mir sehr leidtue, ich mich aber nicht in der Lage sähe, weiter in diesem Stück mitzuspielen. Ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, wie ich ihm sagen konnte, dass er ein aufgeblasenes Großmaul war, ohne ihm zu sagen, er sei ein aufgeblasenes Großmaul. Alles an ihm stieß mich ab. Vor allem sein blödes, überhebliches Lächeln. Seine Selbstgefälligkeit. Weber hatte seine Ich-bin-zuständig-und-mische-den-Laden-jetzt-auf-Maschine angeschmissen und ansonsten die Rollläden runtergelassen. Jagdfieber.
Ich würde ihm erklären, dass ich als kleiner Referendar keine tragende Rolle in diesem Fall übernehmen könne und insgesamt mit meiner Ausbildungszeit bei der Staatsanwaltschaft sehr unzufrieden sei. Weber würde sich meine kleine Rede anhören. Und mir dann den nächsten Ermittlungsschritt erklären, den ich zu absolvieren hätte.
Also verließ ich mein kleines Büro in der ersten Etage und nahm den Weg durch die unendlich langen und irritierenden Flure des Kriminalgerichts in Richtung Webers Büro. Ich klopfte. Er war nicht da. Ich ging hinein. Um zu warten. Ich sah mich um. Und sah die Akte.
Akten sind das eigentliche Heiligtum der Staatsanwaltschaft. Ihr Gral der Erkenntnis. Für Außenstehende eine kaum zu durchdringende Ansammlung von Papieren, die nach einem strengen, nur den Eingeweihten bekannten System im Verlauf der Ermittlungen immer weiter anwächst. Ist ein Aktenordner voll, eröffnen sie den nächsten. Und so weiter. Da gibt es keine Grenzen. Es gibt Vorgänge in der Justiz, die ganze Turnhallen an Aktenbergen füllen. Die Juristen leisten sich eine Maßlosigkeit, die jenseits aller Vorstellungskraft liegt.
Jeder Anruf, jedes Wort der Stiefmutter und der Schwägerin des Verdächtigen findet darin Eingang, ja, sogar jeder Furz, den irgendein Beteiligter lässt, gelangt in diesen Aktenhaufen. Er muss sogar darin auftauchen, um nicht das Gesetz zu verletzen.
Und was einmal drin ist, kommt nicht wieder raus. Nie wieder. Und ist das Verfahren beendet, kommt dieser ganze Kram in den Keller oder auf den Dachboden. Für immer. Millionen Akten lagern in den Justizkellern und auf den Dachböden und dokumentieren nichts außer sich selbst. Die Täter sind längst wieder frei, haben ihr Leben weiter gelebt, sind andere Persönlichkeiten, die mit denen in den Aktenhaufen nichts mehr gemeinsam haben, und sind irgendwann gestorben. Aber die Justiz vergisst nie. Das Fehlen jedes einzelnen Menschen ist auf alle Zeit in den Gräbern der Justiz gespeichert. Vielleicht war das der Grund für diesen Muff, der aus allen Ecken des Gerichtsgebäudes waberte: Der tote Aktenstaub suchte sich seinen Weg durch die Mauerritzen ins Leben zurück.
Ich ging also auf die noch dünne Akte zu. Der staubgrüne Deckel zog mich an. Es waren allerlei Spalten darauf gedruckt, in denen der Zuständige irgendeinen unverständlichen Beamtenspruch hinterlassen konnte. Es stand noch nicht viel drauf. Strunz’ Witwe hatten sie jedenfalls schon in die Mangel genommen. Und nicht zu knapp. Natürlich war sie geschockt von der Nachricht gewesen, dass ihr Mann, der Vater ihrer beiden Töchter, tot war. Das hatte die Kollegen aber nicht davon abgehalten, sie gleich zu befragen.
Ich hatte den Ordner gerade wieder geschlossen und strich mit der Hand über den blassgrünen Deckel, als ich hinter mir die Tür knarzen hörte.
„Na, na, na, was macht denn der Herr Nachwuchsstaatsanwalt da?“, hörte ich den Dicken hinter mir sagen. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn grinsen. „Die Akte geht dich gar nichts an.“ Weber fand das komisch. Er nahm mir die Akte aus den Händen und drückte sie fest an seinen Bauch.
„Ich gebe nur mein Bestes", sagte ich tapfer.
„Ja", sagte er. „Aber du bist nicht zuständig.“
Er setzte sich zum Fenster gebeugt hinter den Schreibtisch und bearbeitete seine Finger mit einem Nagelknipser. Ich konnte mit diesen Dingern ja nichts anfangen. Entweder schnitten sie so komische Ecken, oder sie fetzten die halbe Fingerkuppe ab. Aber Weber arbeitete mit großer Gründlichkeit damit. Erst als sich die Tür erneut öffnete, sammelte er sich, steckte den Knipser in die Brusttasche seines Hemdes und sagte: „Da seid ihr ja endlich.“
Ich kannte die beiden nicht. Sie sahen aus wie alle hier. Jeans, Hemd, ausgebeultes Jackett. Der Linke zog sein Dossier aus der Tasche und legte los.
„Lleowin McGalowan, oder wie man diesen Quatsch ausspricht. Das ist unser Mann“, sagte er und schielte in Webers Richtung.
„Der geht uns seit längerer Zeit ein wenig auf die Nerven. Dealer. Mal hier, mal da. Seinen bisherigen Verurteilungen zufolge ist er vor sechs Jahren als Student aus Wales hergekommen und dann hier irgendwie versackt. Die Kollegen von der Drogenfahndung haben ihn auf dem Radar, aber noch nicht in Manndeckung.“
„Sehr schön“, warf Weber ein.
„Aber komm zur Sache, Walter.“
Walter steckte die linke Hand in die Tasche und fuhr fort. „Er hat das Gerichtsgebäude um fünfzehn Uhr betreten und zwei Stunden später verlassen. Genau der Zeitraum, in dem Strunz von der Empore fiel. Dieser Mac war als Zeuge in einem Verfahren vorgeladen. Der Mac ist ein Dealer, Strunz verurteilt ihn zwei Mal, und als Strunz aus dem Leben tritt, ist er anwesend. Ich hab schon schlechtere Ermittlungslagen erlebt."
Weber schwieg.
„Da is Musike drin", sagte er schließlich.
Danach lehnte er sich zurück und nickte entschlossen.
Die kleine Zusammenkunft löste sich schweigend auf.
Er sah mich mit einem seligen Hundeblick an, bot mir sogar eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne an und legte seine Hand auf meinen Arm. „Robbie-Junge, ich weiß ja nicht, ob das alles so stimmt. Aber ich habe den Eindruck, du bescheißt mich so ein bisschen. Versteh mich nicht falsch, du bist ein guter Junge, und du bist anders als die anderen vielen jungen Leute, die hier rein- und rausgehen. Aber ich habe im Moment nicht den Eindruck, dass du mit ganzem Herzen bei der Sache bist. Was soll ich denn noch mit dir anfangen, damit du für diesen Fall brennst und nicht nach Hause schleichst, wenn du dich langweilst, oder hier stumm rumsitzt und die anderen die Arbeit machen lässt?“
Er hatte ja recht. Was sollte ich also antworten? Dieser Mac Galowan galt ihm als reines Alibi, um seine Chefs zu beruhigen. Das war klar.
„Ist das gerecht?“, fragte ich zurück.
„Robbie-Junge. Gerechtigkeit kannst du vorm Jüngsten Gericht erwarten, aber selbst da wäre ich mir nicht so sicher.“
Jens Anker:
„Schatten über Moabit“,
Emons, 208 Seiten, 9,90 Euro