Wenn man Eltern wird, wird man vergesslich. Manchmal vergesse ich Fionas Lunchpaket in meiner Tasche, manchmal vergesse ich im Supermarkt, was ich eigentlich kaufen wollte, komme mit tausend Dingen nach Hause, nur nicht mit der Sache, deretwegen ich losgegangen bin. Manchmal vergesse ich, dass ich noch einen Text schreiben muss oder jemanden zurückrufen wollte. Und seit einem halben Jahr verfolgt mich das Finanzamt, weil ich dauernd vergesse, meine dort zur Prüfung vergangener Jahre eingereichten Unterlagen abzuholen. Aber wer überprüft auch bitte schön eine Mutter in dem ersten Jahr, in dem sie Elternzeit hatte? Das schafft nur ein Berliner Amt.
Letztens habe ich sogar vergessen, dass ich ein erwachsener Mensch bin. Deswegen habe ich auf die Frage meiner Eltern, ob wir nicht gemeinsam Urlaub machen wollen, freudig mit ja geantwortet. Und jetzt sitze ich hier.
Urlaub mit Eltern ist eine Herausforderung. Vor allem als Kind. Früher mussten wir auf unseren Familienreisen jede noch so gottvergessene Kirche in der Umgebung besichtigen. Die Aussicht, dass jemand vor Hunderten von Jahren ein Bild an eine Wand gemalt hatte, ließ meine Eltern in derartige Verzückungen geraten, dass der schönste Sandstrand und der beste Hotelpool sofort total uninteressant waren und man lieber stundenlang durch die Hitze fuhr, um dieses oder jenes abgelegene Kloster aufzusuchen. Als 13-Jährige wünschte ich mir, dass wir einmal an einem kunsthistorisch sehr bedeutenden Gebäude vorbeigehen, es keines Blickes würdigen und uns über das Fernsehprogramm des Abends unterhalten würden. Der Wunsch ist bis heute unerfüllt geblieben.
Irgendwo hinfahren, wo meine Eltern schon tausendmal waren
Dieses Jahr habe ich den Urlaub selbst gebucht. Wir hatten eine Ferienwohnung direkt an der Strandpromenade in einer Gegend Italiens, in der meine Eltern bereits auch die wirklich hinterletzte Kirche mehrmals besichtigt hatten. Ich weiß es, ich war dabei. Ich dachte, irgendwo hinzufahren, wo sie schon tausendmal waren, würde ihnen etwas Ruhe bringen.
Ich war naiv. Meine Mutter machte einfach eine Liste von den Dingen, die sie auf jeden Fall noch einmal besichtigen wollte. Ich hatte mit Absicht keinen Mietwagen gebucht, also bestellte sie einfach ein Taxi. Genug Italienisch hat sie im Volkshochschulkurs gelernt. Diese Rentner haben einfach zu viel Zeit. Meinen Vater beschäftigte unterdessen vor allem meine Garderobe. „Hast du nur diese dünne Jacke dabei? Ist dir nicht kalt?“
„Ich würde das jetzt nicht so machen...“
Ein Kind zu haben, hat mich in vielen Dingen meinen Eltern noch ein Stück nähergebracht. Im Guten wie im Schlechten. Manchmal hört man aus dem eigenen Mund Sprüche, die man als Kind gehasst hat. Man hört sie sich selbst sagen und denkt, hm, war da doch was dran? Warum wiederhole ich das jetzt? So wie die Erziehung meiner Eltern mich oft verwundert hat, sehe ich jetzt, wie die Art, in der ich meine Tochter erziehe, oft meine Eltern verwundert. Von meiner Mutter bekomme ich dann Tipps wie: „Ich würde das jetzt nicht so machen ... Ich würde ihr mal sagen, dass ... Wenn du da nicht konsequent bist, dann ...“ Und schwupp wird man selbst wieder Kind und schmollt und tobt. Mein Vater schaut mich in solchen Fällen einfach nur sehr verwundert an. So als hätte er mich aus Versehen adoptiert, und erst jetzt würde ihm der Fehler in seiner ganzen Tragweite bewusst.
Ein paar Tage lang wehrte ich mich erfolgreich gegen den Besichtigungswahn meiner Eltern, aber dann gab ich auf, mietete ein Auto, und es wurde dann tatsächlich sehr schön. Eigentlich interessiere ich mich ja auch für Bilder in Kirchen. Eben genauso sehr wie für Strände. Ich glaube, der Konflikt der Mittelschichtseltern meiner Generation ist der: Wir wollen alles ganz genau so und gleichzeitig wie jede Generation, alles ganz anders machen als die eigenen Eltern.
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