Die Sache mit der Peinlichkeit beschäftigt mich. Am Wochenende haben wir eine Radtour an die Oder gemacht. Es gibt da so einen Bauernhof, den wir alle ganz gern mögen. Zwei Gänse namens Hänsel und Gretel watscheln durchs Gras, es gibt zig Schafe, Hasen, quakende Frösche und eine Menge anderes Getier. Die Kinder lieben es, rennen überall herum und vergessen schnell ihren Vorsatz, an freien Tagen ununterbrochen aufs Handy zu starren.
Ich musste noch etwas einkaufen und fuhr mit meiner siebenjährigen Tochter zum nahe gelegenen Supermarkt. Ich hatte gute Laune, und im Markt lief Musik, also tanzte ich ein bisschen mit dem Einkaufswagen herum, warf kunstvoll ein Stück Butter hinein und jonglierte mit zwei Lauchstangen. Als ich mich nach meiner Tochter umsah, fand ich sie mit gesenktem Kopf ganz hinten bei den Backwaren. Ich fragte, was denn los sei. „Du bist so peinlich“, hauchte sie.
Okay, dachte ich, muss ich mich wohl ein bisschen zusammenreißen. Mit größtmöglicher Seriosität besorgte ich die übrigen Einkäufe, meine Tochter schlich im Sicherheitsabstand hinter mir her. Wir gingen noch in den Getränkemarkt. Ich stellte Mineralwasser aufs Band, eine Flasche Sekt und eine Flasche Johannisbeersirup. Als ich bezahlt hatte und das Zeug zurück in den Einkaufswagen laden wollte, glitt mir die gläserne Sirupflasche aus der Hand. Ich sah sie zeitlupengleich nach unten segeln, das Licht der Nachmittagssonne spiegelte sich in ihr – und schon zersprang sie in tausend Scherben. Ihr klebriger Inhalt ergoss sich großflächig auf den Steinfußboden. Es roch plötzlich im ganzen Laden nach überzuckerter Johannisbeere. „Ups“, sagte ich. „Na super“, sagte die Kassiererin. Nur meine Tochter sagte nichts. Sie war verschwunden.
Es gibt zwei Sorten von Peinlichkeit
Ich fand sie auf dem Parkplatz, wo sie sich hinter dem Auto versteckt hatte, meine viel zu große Sonnenbrille auf der Nase. Niemand sollte sie hier erkennen, und schon gar nicht sollte irgendwer glauben, sie hätte etwas mit diesem schrecklichen Randalierer aus dem Getränkemarkt zu tun. „Das war das letzte Mal, Papa.“ „Das letzte Mal von was?“ „Einkaufen mit dir. Ab jetzt nur noch mit Mama.“
Auf dem Weg zurück dachte ich darüber nach, wann ich eigentlich so peinlich geworden war. Mir fiel auf, dass man zwei Sorten Peinlichkeit unterscheiden muss. Da ist zum einen die Peinlichkeit des Verhaltens, mit der ich meine Tochter gerade offenbar schwer brüskiert hatte. Mit ihr kann ich ganz gut leben, weil ich ja dazulernen und mein Verhalten ändern kann: Wenn es Mademoiselle so unangenehm ist, dass sich Papa zum Horst macht, dann kann Papa das ja auch mal bleiben lassen.
Die reine Existenz ist schon peinlich
Es gibt aber für Kinder offenbar auch noch eine andere Peinlichkeit, und die liegt darin, dass ihre Eltern überhaupt existieren. Jahrelang habe ich meinen Sohn morgens weggebracht, erst zur Kita, dann zur Schule. Eines Morgens bat er mich, ihn nicht mehr bis zum Schultor zu bringen, sondern nur bis zur Straßenecke. Auch den Abschiedskuss lehnte er ab. Er warf dabei nervöse Blicke nach links und rechts. „Nimm es nicht persönlich, Papa“, sagte er. Aber natürlich nahm ich es trotzdem persönlich.
Ich fuhr ins Büro und erzählte das meinem Lieblingskollegen, der eine zwölfjährige Tochter hat. Der lachte darüber nur. Wenn er mit seiner Tochter U-Bahn fahre, sagte er, dann laufe das so ab: Am U-Bahnhof bestehe sie darauf, allein am anderen Ende des Waggons einzusteigen. Für die Dauer der Fahrt tue sie dann so, als würde sie ihn gar nicht kennen: „Wenn ich versuche, sie anzulächeln, schaut sie empört weg. Ich komme mir bei meiner eigenen Tochter vor wie ein Stalker!“ Als ich das später meiner Tochter erzählte, sagte sie: „Finde ich gut, machen wir jetzt auch so.“
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