Berlin. Beim Wechsel des Kindes aufs Gymnasium steht oft eine umstrittene Frage an: Soll man eine tote Sprache lernen?

Mein Sohn wird bald Latein lernen. Das liegt gar nicht daran, dass er, meine Frau oder ich das unbedingt so wollten. Das Gymnasium, das wir toll fanden und das er jetzt bald besuchen wird, will es so. Wir haben es an einem Tag der offenen Tür besucht. Schüler spielten Janoschs „Oh wie schön ist Panama“ als Theaterstück auf Latein. Das war ziemlich zauberhaft.

Beim Lateinischen als Schulfach wird immer gern schnell und laut aufgestöhnt. Das sei Zeitverschwendung, hört man dann oft, hier werde im Namen eines nebulösen Bildungsideals unnütze Quälerei betrieben. Mir fällt bei solchen Gesprächen immer ein, wie sich mein zwei Jahre älterer Bruder mehrere Schuljahre lang durch den Lateinunterricht schwitzen musste, bis die Familie aus anderen Gründen in ein anderes Bundesland zog und er endlich erlöst war. Oder ich denke daran, wie ich an der Universität drei Semester lang an den Originalschriften Caesars, Senecas und Suetons verzweifelte, nur um Geschichte im Hauptfach studieren zu dürfen. Viele meiner Freunde und Bekannten haben solche quasitraumatischen Erfahrungen auf Lager, wenn es um Latein geht.

Deshalb schrecken viele Eltern auch davor zurück, ihren Kindern das zuzumuten. Dabei wird leicht vergessen, dass sich an den Schulen in den letzten 20 Jahren ja auch etwas geändert haben könnte. Auf der Suche nach einer geeigneten Schule für unseren Sohn hatten wir auch einen Termin an einem Gymnasium in Prenzlauer Berg. In einem unterirdisch gelegenen Werk- und Bastelraum hieß uns ein ursympathischer, älterer Lehrer willkommen, der mit seinem weißen Bart ein wenig an Professor Dumbledore aus der Harry-Potter-Reihe erinnerte. Er erzählte viele spannende Dinge, aber ich hatte zwischendurch das zufällig vor mir liegende Lateinlehrbuch aufgeschlagen und mich regelrecht darin festgelesen. Das wäre mir mit den Büchern aus meiner Schulzeit sicher nicht passiert, auch damals nicht, als ich Latein für Teufelszeug hielt. Als ich dann ein paar Wochen später das Janosch-Stück an der künftigen Schule unseres Sohnes sah, fiel mir die Freude auf, die die Kinder dabei hatten. Klar, man kann sicher auch ohne Latein Spaß haben. Aber überraschenderweise wohl auch mit Latein.

Nützlich für den späteren Konkurrenzkampf? Meine Güte!

Bleibt noch das gern gebrauchte Argument fehlender Nützlichkeit. Das habe ich noch nie so ganz verstanden. Nicht nützlich wofür? Für den späteren Konkurrenzkampf im Arbeitsmarkt? Meine Güte. Unser Sohn ist neun Jahre alt, man nennt es auch Kindheit. Da sollte der spätere Marktwert doch hoffentlich eine kleinere Rolle spielen als die Entwicklung von Neugier auf alles, was für unser Leben eine Rolle spielt. Und daran, wie wir heute denken, reden und schreiben, an unserer gesamten kulturellen Überlieferung hat das Lateinische nun einmal ganz überragenden Anteil. Ganz gleich, ob diese Sprache heute noch gesprochen wird oder nicht.

Professor Dumbledore erzählte, dass die Bewerberzahlen für seine Schule in den letzten Jahren vergleichsweise moderat ausgefallen seien und nicht nennenswert über der Zahl der angebotenen Plätze gelegen hätten. Das ist in einem Bezirk wie Prenzlauer Berg schon einigermaßen erstaunlich, wo man die Klage über völlig überlaufene Schulen an jeder Ecke hören kann. Die Schule, die gerade saniert worden ist, machte auch sonst einen ganz hervorragenden Eindruck. Aber die Angst vor der alten Pädagogik und ihrem gern im Lateinunterricht ausgelebten Sadismus sitzt offenbar noch vielen Eltern in den Knochen.

Nur geht es halt auch anders. Aber ich will hier keine Plädoyers halten. Mein Sohn würde sowieso fragen, was die Aufregung soll. Warum soll ich nicht Latein lernen, fragte er letztens, ich spiele ja auch Schach. Damit ist eigentlich alles gesagt.

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