Michael Winterhoff ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Autor. Er wurde bekannt mit dem Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (2008). Zuletzt erschien „Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen“. In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten“ widmet sich Winterhoff den Symptomen der dauergestressten Gesellschaft. Wir sprachen mit ihm über die Gründe, warum wir so gern in der Opferrolle verharren, anstatt Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen.
Man handelt – und will nicht für die Folgen verantwortlich sein. Man trifft Entscheidungen – und will die Konsequenzen nicht tragen. Warum deutet der Zeigefinger so schnell von uns weg, wenn ein Schaden entstanden ist?
Michael Winterhoff: Erwachsene ruhen heute vielfach nicht mehr in sich, sondern reagieren nur noch. Sie übernehmen wie Kinder keine Verantwortung. Dieser Modus, nur noch zu reagieren anstatt zu planen und dann zu handeln, ist eine kindliche Haltung. Man schaut, wie einem nichts passieren kann und schummelt sich durch, um zu bekommen, was man will.
Was sagt die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, über unseren inneren Zustand?
Genaugenommen ist es gar keine Weigerung, sondern eher ein Mangel. Das zu sehen ist wichtig. Nur wer über eine erwachsene, ausgereifte Psyche verfügt, kann Verantwortung übernehmen. Wenn ich nicht über die Kräfte meiner erwachsenen Psyche verfüge, sehe ich gar nicht mehr, worum es geht und agiere ohne Konzept. Die Kunst, es nicht gewesen zu sein, besteht also darin, im Nachhinein Ausreden zu erfinden, statt sich im Vorfeld zu überlegen, was das eigene Tun für Konsequenzen haben kann. Das würden Kinder auch so machen, aber es ist kein bewusster Schritt im Sinne einer Weigerung.
Welche Rolle spielen äußere Umstände, sprich: die Gesellschaft, in der wir leben?
Dass immer mehr Erwachsene keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, führe ich auch auf die allgegenwärtige Reizüberflutung im digitalen Zeitalter zurück. Zuallererst geht uns die Intuition und damit die Besinnung auf richtig und falsch verloren. Die Überforderung durch die Reizflut und der Druck, zu viele Entscheidungen in kurzer Zeit treffen zu müssen, lässt die Psyche punktuell regredieren. Die Folge ist, dass wir in einer infantilen Gesellschaft leben, die nicht über ihre Psyche bestimmt. Deshalb benehmen wir uns wie fremdbestimmte Kinder. Die Flut von Negativmeldungen und Katastrophennachrichten, die uns in einen andauernden Panik-Modus versetzt, tut ein Übriges. Erwachsene verhalten sich angstgesteuert, sie haben jede Distanzierungsmöglichkeit verloren. Die Regeneration, die die Regression aufhalten könnte, fehlt.
Wozu führt das?
Dieser Zustand ist für die Psyche gefährlich, weil die Speicher leerlaufen, aus denen sich die erwachsene Selbstbestimmung „Ich entscheide“ speise. Stattdessen dominieren die Fragen: Wie komme ich aus der Nummer raus? Wie kann ich daraus Kapital schlagen? Jederzeit eine gute Ausrede parat zu haben, ist eine hochwirksame Verweigerungsstrategie. Aber der Lerneffekt fällt weg – und damit auch die Möglichkeit, beim nächsten Mal besser zu entscheiden.
Wie entwickelt sich eigentlich das Gewissen? Und warum oft so schwach?
Mit fünf Jahren kann ein Kind richtig und falsch unterscheiden. Die Gewissensinstanz beginnt sich schon mit zweieinhalb Jahren an der Reaktion und Anleitung von Eltern und Erziehern zu formen. Ein Fünfjähriger weiß, wenn er etwas Verbotenes getan hat und wird, wenn er gut entwickelt ist, erröten oder beschämt reagieren, wenn er erwischt wird. Ist ein Reiz zu groß, wird das natürlich noch eine Sache der Abwägung sein.
Und im Jugendalter?
Mit 14 Jahren glaubt keiner mehr, dass es in Ordnung ist zu klauen. Das Gewissen funktioniert als Instanz, auch wenn Eltern und Lehrer nicht dabei sind. Wer dann noch klaut, hat es gezielt getan. Deshalb haben wir ein Jugendstrafrecht, das mit 14 Jahren einsetzt. Der Weg vom Kind zum Erwachsenen beschreibt den Weg von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Deshalb ist das „Ich war’s nicht“ als Chiffre für unerwachsenes Verhalten normal geworden. Wir reagieren unvernünftig, selbstsüchtig und nach dem Lustprinzip. Wenn etwas schiefgeht, rufen wir nach einer Instanz, die den angerichteten Schaden beheben oder zumindest die Verantwortung dafür übernehmen soll.
Welcher Schaden entsteht, wenn die Konsequenzen eigenen Handelns geleugnet werden – in Chefetagen, aber auch an Arbeitsplätzen oder ganz privat in den vier Wänden?
Das wird zum Freifahrtschein für alle, die keine innerliche moralische Instanz haben. Schlechte Vorbilder zerstören nicht das Gewissen, aber sie werden von jemandem, der regrediert ist, als Ausrede gebraucht, um sich über eigene Taten zu beruhigen – wenn der das macht, mache ich das doch auch.
Was müsste passieren?
Es sind ja so viele, die keine Chance hatten, eine moralische Haltung zu entwickeln, weil sie nicht erlebt haben, dass ihre Eltern in sich ruhen und Zeit haben, soziales Verhalten einzuüben. Vergleichen wir das mit Tennisspielen: Es reicht nicht, dass Ihnen jemand das Spiel erklärt und vorspielt. Sie müssen es einüben und das dauert. Doch die Zeit und Ruhe dafür nehmen sich Eltern nicht mehr und auch die Versorgungssysteme sind mit der Aufgabe überfordert. So wächst eine immer größere Generation von egoistischen Menschen heran, die unfähig zu sozialem Verhalten ist. Das gefährdet auch unsere Demokratie. Sich aus der Affäre zu ziehen, wenn Konsequenzen des eigenen Handelns drohen, ist weit verbreitet und funktioniert sogar schon im Vorhinein – besonders im Internet.
Inwiefern?
Das Zauberwort heißt Anonymität. Wer sich unter einem Tarnmantel versteckt, kann sich alles erlauben. Er muss sich noch nicht einmal hinterher herausreden. Eine dankbare Umgebung für das Agieren von No-Name-Personen ist das Internet, und genau das ist auch so gewollt. Datensicherheit ist das eine, aber oft auch nur eine Ausrede dafür, ungestraft giften und ätzen zu können, ohne dass man sich als Absender für seine Ausfälle und Verbalattacken verantworten müsste.