Die Förderung hochbegabter Kinder ist in aller Munde. Doch wie geht es Erwachsenen, deren Intelligenz lange nicht erkannt wurde?

Einmal im Monat ist sonntags in der Konditorei „Tortenwerkstatt“ in der Gleimstraße nahe des Mauerparks ein Tisch reserviert. Die Hits sind hier die Himbeersahne-, Schwarzwälderkirsch- oder Nougattorte. Jacqueline ist als erste da. Sie hat sich gleich zwei Stück Torte bestellt. Die kleine, energische Frau mit hochgesteckten dunklen Haaren hat den Stammtisch „Post Cognosco – für spät erkannte Hochbegabte“ ins Leben gerufen. Rund ein Dutzend Männer und Frauen zwischen 35 und 65 Jahren treffen nach und nach ein. Sie sind allesamt hochintelligent und haben davon aber erst spät in ihrem Leben erfahren. Die Stimmung ist locker. Einige kennen sich. Es wird viel gelacht.

Zwei Jahre ist es her, dass sich Jacquelines Leben durch einen IQ-Test grundlegend änderte. Heute weiß sie, dass sie einst zu den zwei Prozent der Kinder gehörte, die weit überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten haben. Doch das merkte niemand. Ihre Mutter, erzählt sie, schämte sich sogar für ihr „dummes Kind“. Sie hörte Sprüche wie: „Nett lächeln kann sie ja. Ansonsten sollte sie besser den Mund halten“. Daran hielt sie sich - bis sie sich mit 51 Jahren dazu entschloss, einen Intelligenztest zu machen. Das Ergebnis bescheinigte ihr: Sie hat einen Intelligenzquotienten (IQ) von 138. Von Hochbegabung wird in Deutschland ab einem IQ von 130 gesprochen. Doch statt sich zu freuen, brach Jacqueline in Tränen aus. Zu groß war die Trauer über die verlorenen Jahre. Über all die Ungerechtigkeiten und die verpassten Gelegenheiten.

Fremd und unverstanden

Seit Jacquelines Kindheit hat sich viel geändert. Die Förderung hochbegabter Kinder ist heute in aller Munde. Jeder weiß, dass sie besondere Fähigkeiten und Interessen besitzen und Gleichaltrigen oft beträchtlich voraus sind. Hochbegabte sollten so viel wie möglich fragen, lesen, lernen und experimentieren dürfen. Schwierig ist es dagegen, wenn ihre intellektuellen Fähigkeiten nicht entdeckt werden und sie diese nicht entfalten dürfen. Dann, weiß man, kann es zu Problemen und Verhaltensauffälligkeiten kommen.

Beim Stammtisch „Post Cognosco“ treffen sich Erwachsene wie Jacqueline, deren überdurchschnittliche Intelligenz lange nicht wahrgenommen wurde. Die Teilnehmer sind Mitglieder von „Mensa“, einem weltweiten Verein für hochbegabte Menschen mit 120.000 Mitgliedern aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen in über 100 Staaten. In Deutschland, wo der Verein seit 1979 besteht, sind es 12.500. Der Verein hat zum Ziel, hochintelligente Menschen zu vernetzen und ihre Interessen zu vertreten. Außerdem bietet „Mensa“ wissenschaftlich anerkannte Intelligenztests an. Mitglied im Verein werden darf nur, wer einen IQ von mindestens 130 hat.

Für Hochbegabte kann es sehr schwer sein, die eigenen Talente zu erkennen, zu ihnen zu stehen und sie richtig einzusetzen. „Viele leben ihr Leben bis zur ‚Entdeckung‘ in einem großen Gefühl von Einsamkeit. Sie fühlen sich unverstanden, irgendwie falsch, fremd – wie von einem anderen Stern“, sagt Anne Heintze, 55. Sie ist Expertin für Hochbegabung und unterstützt als Therapeutin, Heilpraktikerin, Mentorin und Autorin („Außergewöhnlich normal“) außergewöhnliche Menschen dabei, ihr Potenzial auszuschöpfen.

Tief in ihrem Inneren wusste sie: Nein, ich bin nicht dumm

Anne Heintze kennt die „mäandernden Lebensläufe und Patchwork-Karrieren“ von Hochintelligenten, die sich häufig auch durch eine hohe Sensibilität auszeichnen. In der Arbeitswelt brauchen sie Toleranz und Wertschätzung. Mit strengen Hierarchien oder Eintönigkeit kommen sie schlecht klar. Macht und Titel interessieren sie wenig. Stattdessen brauchen sie die Möglichkeit, ihre Träume und Visionen leben zu können. Ihre feinen Sensoren für Ungerechtigkeiten, Lügen, Selbstbetrug und die Dummheit anderer machten ihnen das Leben nicht unbedingt leichter, so Anne Heintze.

Auch Jacqueline hat einen langen Leidensweg hinter sich. In ihren ersten Schuljahren in Ostberlin war sie Klassenbeste und stolz darauf. Doch dann stellte ihre Mutter einen Ausreiseantrag. Jacquelines linientreue Klassenlehrerin sah in der Fünftklässlerin plötzlich einen „Klassenfeind“ und machte Stimmung gegen sie. Die Mitschüler schnitten und hänselten sie. Immer wieder wurde das zierliche Mädchen auf dem Heimweg verprügelt. Die Noten gingen in den Keller. Für den Absturz in der Schule hatte die Mutter, der häufig die Hand ausrutschte, wenig Verständnis.

Das negative Bild, das Jacqueline in sich gespeichert hatte, spiegelte ihr bald auch die Außenwelt wider. Immer wieder begegneten ihr Menschen, die es angeblich gut mit ihr meinten. Sie gaben den Ratschlag, lieber mit ihrem Aussehen zu punkten als mit ihrer vermeintlich nicht vorhandenen Intelligenz.

Sie absolvierte mehrere Ausbildungen. Wurde Facharbeiterin für Schreibtechnik, dann zahnmedizinische Fachangestellte, danach Zahntechnikerin und zahnmedizinische Prophylaxe-Assistentin. „Auch während der Ausbildung wurde mir immer wieder vermittelt, dass ich nicht sonderlich intelligent bin“, erzählt sie. Tief im Inneren wusste sie aber, dass das nicht stimmen konnte. Dass sie schneller als andere Zusammenhänge verstand und Informationen abspeicherte. „Doch wenn mir so viele sagten, dass ich dumm sei, musste doch etwas dran sein“, glaubte Jacqueline.

Sie sind oft Außenseiter und leicht zu verunsichern

Für Außenstehende ist schwer begreiflich, wie es zu einer solch verhängnisvollen Dynamik kommen kann. Das liegt daran, dass sich eine überdurchschnittliche Intelligenz nicht zwingend in außerordentlichen schulischen Leistungen niederschlägt. Im Gegenteil. Viele Hochbegabte verstellen sich sogar – aus Angst, sonst wegen ihres Anderssein ausgeschlossen zu werden. Sie machen sich zum Klassenclown oder geben sich dümmer, als sie sind. „Dazu kommt, dass Hochbegabte durch ihre Außenseiterrolle mitunter so verunsichert sind, dass sie ihre Fähigkeiten gar nicht richtig einschätzen können“, sagt Manon Garcia, selbst hochbegabt und heute als Coach für spät erkannte Hochbegabte tätig (siehe Interview).

Auch wenn nicht jeder Hochbegabte ein zweiter Albert Einstein ist, gibt es doch Indizien. Typische Anzeichen für eine Hochbegabung sind zum Beispiel ein hohes Detailwissen, ein sehr gutes Verständnis von Zusammenhängen, ein ungewöhnlich umfangreicher Wortschatz, eine starke Vertiefung in bestimmte Themen und perfektionistische Ansprüche an sich selbst. In Runden wie dem Sonntags-Treff in Prenzlauer Berg können sich hochbegabte Erwachsene über solche Erfahrungen austauschen und haben die Chance, auf Gleichgesinnte zu treffen. Das schätzt nicht nur Jacqueline, sondern auch Robert*, ein unauffällig wirkender Brillenträger mit freundlichen Augen.

„Sie hat es nicht leicht mit mir“

Dass er nicht dumm ist, war Robert schon lange bewusst. Der 49-Jährige ist Physiker und arbeitet erfolgreich in der IT-Branche bei einem Hardwareanbieter. Für Freunde ist er ein beliebter Berater, wenn die mal wieder Probleme mit ihrem Computer haben. Da hilft Robert gern. Häufig hat er aber Schwierigkeiten, mit anderen zu kommunizieren. Small Talk liegt ihm nicht. Gespräche über die neuesten Dienstwagen oder Fußball findet er „so was von öde“. Was ihn fasziniert, ist der kürzlich erfolgte Nachweis der Gravitationswellen, der letzte Baustein für die Allgemeine Relativitätstheorie. Dafür findet er in virtuellen Diskussionsrunden oder bei einem der Mensa-Treffen geeignete Gesprächspartner.

Auch mit der Aussage, dass er sich mit seinem Beruf nicht ausgelastet fühlt, trifft er beim Stammtisch auf Verständnis. Robert hat jede Menge Hobbys: Er interessiert sich für klassische Musik, betreibt ein Internetradio und ist Experte für Antiquitäten. Manchmal empfindet er die vielen Ideen, die er hat, sogar als Fluch. Ständig hat er Prototypen oder Konzepte im Kopf. „Manchmal, wenn der Kopf zu aktiv ist, höre ich Heavy Metal zum Runterkommen“, erzählt er lächelnd. Wenn er mal mit seiner Freundin fernsieht, regt er sich über die schlecht recherchierten Beiträge auf und geht ihr damit auf die Nerven. „Sie hat es nicht einfach mit mir“, sagt er selbstkritisch: „Das Zusammenleben mit einem Hochbegabten ist nicht leicht.“

„Hochbegabte Frauen haben es besonders schwer“, weiß Maria*. „In Beziehungen habe ich mich früher ganz klein gemacht“, erzählt die 65-Jährige. Schon ihre Mutter hätte ihr gedroht: „Wenn du einen Mann bekommen willst, musst du lernen, dich anzupassen.“ Lange hielt Maria die untergeordnete Rolle nicht aus: Sie war eher das Alphatier. Die Männer wurden ihr zu langweilig und sie ihnen zu anstrengend. Ein Mann sagte sogar zu ihr: „Du bist ja gar keine richtige Frau.“ Vor drei Jahren erst entdeckte die leidenschaftliche Hobbymalerin ihre Hochbegabung. Die Mitarbeiterin im öffentlichen Dienst ist wie viele Hochbegabte auch hochsensibel und hochsensitiv.

Der buchstäbliche 7. Sinn

Hochsensible Menschen nehmen mit allen Sinnen mehr und feiner wahr als andere. „Ihre Saiten schwingen leichter“, versucht Anne Heintze die Veranlagung zu erklären. Der Nachteil: Die Menge an Reizen, die diese Menschen aufnehmen, lässt sie dünnhäutig und gestresst auf Belastungssituationen reagieren. Hochsensitive haben den buchstäblichen 7. Sinn. Und sie können nur mit wenigen Menschen über ihre Wahrnehmungen und Vorahnungen reden.

Maria kennt das. Als sie 15 war, hatte sie eine Vision. Mitten in der Nacht wachte sie auf und sah ihren Onkel an der Tür stehen und winken. Später stellte sich heraus, dass das genau sein Todeszeitpunkt war. „Hier beim Stammtisch kann ich das ja erzählen“, sagt Maria und lacht. „Normalerweise wird man dann eingeliefert.“ Robert nickt. „Als Physiker müsste ich ja eigentlich solchen Erzählungen kritisch gegenüber stehen. Aber auch ich kenne Situationen, die rational nicht erklärbar sind.“ Wenn er etwa bei Freunden anrufe, merke er, bevor sie abheben, ob sie zu Hause seien oder nicht.

Seit Robert weiß, dass er überdurchschnittlich intelligent ist, kann er für sich selbst mehr Verständnis und Milde aufbringen und hat eine größere Selbstsicherheit erlangt. „Die Diagnose hat Klarheit in die Frage gebracht, warum ich so deutlich anders denke als die meisten Leute in meinem Umfeld“, sagt er. Vieles in seiner Vergangenheit kann er nun in einem anderen Licht sehen. Gleichzeitig gibt ihm das Ergebnis ein größeres Vertrauen, was seine „verrückten“ Ideen betrifft – und es spornt ihn an, seine Trägheit zu überwinden. Bei Mensa hat er neue Freundschaften geschlossen. Entwicklungsmöglichkeiten haben sich aufgetan, an die er sich vorher nicht herangetraut hätte.

Die Unsicherheit gegenüber dem Umfeld bleibt jedoch. Wie hoch sein Intelligenzquotient genau ist, will Robert nicht verraten. Auch seinen echten Namen will er lieber nicht nennen. Wie viele Hochbegabte hat er Angst, dass die Erwähnung seiner überdurchschnittlichen Intelligenz negative Auswirkungen auf sein Privat- oder Berufsleben haben könnte. „Hochbegabte werden oft von anderen angegriffen und brauchen einen Schutzraum“, sagt er. „Es existiert immer die Gefahr, dass man von Normalbegabten manipuliert wird, die gut reden und sich gut darstellen können.“

Die Prophezeiung hatte sich plötzlich selbst erfüllt

So erging es Jacqueline. Was sie eigentlich wollte, wusste sie irgendwann nicht mehr. Sie fühlte sich nur zutiefst verunsichert und traute sich nichts zu. Heute erklärt sie sich das so: „Ich hatte mein Gehirn auf ‚Überlebensmodus‘ heruntergefahren.“ Sie sah nicht mehr nach links und rechts, lernte nichts mehr und interessierte sich nicht für Politik und auch nicht für andere Themen. Sie erinnert sich: „Ich hatte überhaupt kein Allgemeinwissen und konnte mich an keinem Gespräch mehr beteiligen.“ Sprach sie jemand an oder versuchte sie sich auf etwas zu konzentrieren, hatte sie immer wieder „Aussetzer“ und bekam ihre Gedanken nicht in den Griff. Die Prophezeiung hatte sich selbst erfüllt: Sie musste einfach dumm sein. Jacquelines Strategie: Sie machte sich unsichtbar. „Wenn ich nichts mehr sage, kann ich auch nicht negativ auffallen“, dachte sie.

Für Autorin Anne Heintze ein typischer Fall von „Underachievement“. „Underachiever“, zu deutsch: „Minderleister“, sind Menschen, die trotz vorhandener Talente oder Fähigkeiten in ihren Leistungen weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Darunter sind viele Hochbegabte. Aufgrund von Ängsten, Selbstzweifeln und mangelndem Selbstwertgefühl können sie ihr Potenzial nicht nutzen. Statt mit Leistung zu trumpfen, stapeln sie tief. Besonders gefährdet sind die, die als Kinder wenig Liebe und Förderung erhalten haben. Wird ihre Begabung dennoch entdeckt, können allerdings erstaunliche Kräfte frei werden. „Das Wissen um eine Hochbegabung kann erdrutschartige Erkenntnisprozesse in Gang setzen“, so Heintze. Das ist nicht selten begleitet von starken Emotionen.

Ihm genügte, was ihm zuflog

Benjamin* etwa empfand „die totale Euphorie“, nachdem er einen Intelligenztest absolviert hatte, der ihm Hochbegabung bescheinigte. „Die ganze Welt schien mir offen zu stehen, am liebsten hätte ich gleich drei Studiengänge auf einmal belegt“, erzählt er beim Stammtisch. Doch der Euphorie folgte die Ernüchterung, dann die Depression über verpasste Chancen.

Rückblickend versteht er immerhin die Probleme, die er als „Besserwisser“ häufig mit anderen hatte. Benjamin hatte früh gemerkt, dass er anders tickt als andere. Der heute 40-jährige IT-Berater musste sich nie anstrengen und schaffte die Schule „mit minimalem Aufwand“. Ab der 6. Klasse habe er nie mehr Hausaufgaben gemacht, erzählt der schlaksige, jugendlich wirkende Typ. Manchmal, wenn er im Unterricht etwas gesagt habe, hätten seine Mitschüler geglaubt: „Das kann nicht von dir sein.“ Ehrgeiz hatte Benjamin nie. Ihm genügte, was ihm zuflog, und er ging über lange Zeit den Weg des geringsten Widerstands.

Nach der Realschule begann er eine Ausbildung als Kommunikationselektroniker und arbeitete anschließend als Servicetechniker. In einem großen Systemhaus stieg er auf zum Consultant und IT-Berater. „Alles war immer easy“, erinnert er sich. Hatte er eine Aufgabe gemeistert, wurde ihm schnell langweilig und er suchte nach neuen Herausforderungen. Trotzdem fühlte er sich nicht ausgelastet. Zum ersten Mal zog er in Betracht, hochbegabt zu sein. Doch er zweifelte auch an sich: Wenn er hochbegabt wäre, müsste er doch mindestens zwei Doktortitel haben, sagte er sich. Dennoch: „Aus Spaß“ machte er im Internet Logiktests, manchmal waren auch IQ-Tests dabei.

Es war eine Zeit voller Angst

Auch Jacqueline ließ das Thema nicht los. Eine leise Stimme in ihr sagte immer wieder: „Du kannst mehr“. Sie recherchierte nachts, wenn keiner sie beobachtete, im Internet und machte heimlich Intelligenztests. Nach mehreren Anläufen entschied sie sich schließlich, genau wie Benjamin, an einem Test des Hochbegabten-Vereins Mensa teilzunehmen. Nur ihr Lebenspartner und ein Kollege wussten von ihrem Vorhaben. „Es ist doch egal, wie der Test ausgeht“, redete sie sich selbst ein. Doch ihre Gefühle fuhren Achterbahn. „Wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich endlich anfangen, zu leben und mich zu mögen“, hoffte sie.

Vor zwei Jahren war es soweit. Zusammen mit 15 anderen saß Jacqueline in einem Raum und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass sie ihre Lesebrille vergessen hatte. Ausgerechnet! Wo doch so viel von dem Test abhing. So etwas konnte nur jemandem passieren, der komplett bescheuert war und nicht hochintelligent, sagte sie sich.

Mit tränenblinden Augen entschied sie sich, es trotzdem zu versuchen. Einen ganzen Aufgabenblock musste sie auslassen. Zu mühselig war es, den langen Text ohne Brille zu entziffern. Drei Wochen musste Jacqueline auf das Ergebnis warten. Eine Zeit voller Angst. Was, wenn der Test bestätigte, was alle schon immer zu wissen glaubten? Dann kam der Brief. Da stand es schwarz auf weiß: Man bescheinigte ihr einen IQ von 138. Und das trotz des Malheurs mit der Lesebrille.

Anne Heintze weiß, wie wichtig ein Intelligenztest für viele Hochbegabte ist. Als „Beweisstück“ kann er Sicherheit vermitteln. Trotzdem steht sie IQ-Tests kritisch gegenüber. Fragwürdig findet sie, dass man für die Tests lernen kann und nur ein Ausschnitt getestet wird. Es gäbe Menschen, die Begabungen haben, die im IQ-Test gar nicht gemessen werden können - Kreativität etwa oder emotionale, praktische oder auch physische Intelligenz, wie sie etwa Tänzer haben. Das Ergebnis kann zudem schwanken, etwa wenn der Getestete gerade in einer Krise steckt. Und eines können die Tests auf keinen Fall: eine Aussage darüber machen, wie erfolgreich die Absolventin beziehungsweise der Absolvent sein wird und ob es ihr oder ihm gelingt, mit den persönlichen Begabungen ein zufriedenes Leben zu führen.

Der Test als Befreiung

Für Jacqueline aber war der Test ein Segen. Ihr Leben begann sich rasant zu verändern. Es war, als sei eine enorme Kraft in ihr freigesetzt worden. Statt Gedankenaussetzern hatte sie plötzlich jede Menge neue Ideen und Pläne. Sie wollte lernen, sich weiterentwickeln, etwas bewegen. Mittlerweile studiert die Mutter eines 25-jährigen Sohnes im ersten Semester Jura und paukt nebenbei Sprachen: Spanisch, Englisch, Hebräisch, Italienisch. „Für das Herz“ lernt sie Violine – Tätigkeiten, die sie sich ohne das Testergebnis nie zugetraut hätte.

Auch Benjamin sucht sich inzwischen beruflich wie privat Bereiche, „in denen er sich geistig austoben kann“. Das macht ihn ausgeglichener. Er baut ein privates Internetprojekt auf und setzt sich für Freiheitsrechte und digitale Selbstbestimmung ein. Außerdem lernt er Gitarre und spielt Improvisationstheater. Ehrgeizig, wie er mittlerweile ist, würde er es am liebsten bis zur Bühnenreife bringen. Gerne würde er auch Physik studieren. Das Problem: Trotz seines hohen IQs, den auch er nicht verraten will, hat er nur einen mittleren Schulabschluss.

„Bunte Zebras“: So nennt Autorin Anne Heintze liebevoll außergewöhnliche Menschen wie Jacqueline, Robert, Benjamin und Maria. „Es gibt so viel Unwissen im Bereich Hochbegabung“, bedauert sie. Und dass die frühkindliche Förderung von Kindern in der Schule heute besser funktioniert als früher, hat die Mutter von fünf Kindern einer Patchworkfamilie noch nicht feststellen können: „Das Schulsystem verdirbt den Kindern oft den Spaß am Lernen.“ Oftmals heiße es von Seiten der Lehrer: „Tut uns leid, wir müssen erst einmal die fördern, die es wirklich nötig haben und sonst die Klasse wiederholen müssten. Erst kommen die Schwachen dran.“ Dadurch, findet Heintze, läge enorm viel Potenzial brach - mit Konsequenzen nicht nur für die Betroffenen, sondern für die ganze Gesellschaft. „Überlegen Sie sich, was die zehn Prozent der Menschen mit einem IQ ab 120 Außerordentliches leisten könnten, wenn sie in einem Unternehmen an der richtigen Stelle sitzen würden“, sagt sie. „Was für ein Geschenk!“

*Namen geändert