Sexualität

„Emotionale Reife ist ein starkes Aphrodisiakum“

| Lesedauer: 6 Minuten
Daniela Noack
Die Liebe kennt keine Altersgrenze

Die Liebe kennt keine Altersgrenze

Foto: imago/Westend61

Körperpsychotherapeutin Lieselotte Diem erklärt, wie sich die Liebe im Alter verändert und verrät das beste natürliche Potenzmittel

Wie ändert sich die Liebe im Alter? Ist es normal, im Alter von 70 noch Sex zu haben? Darüber sprachen wir mit Lieselotte Diem. Die 64-Jährige ist Körperpsychotherapeutin in Berlin.

Berliner Morgenpost: „Je oller, je doller“, lautet ein bekannter Spruch. Gilt das auch für die Liebe?

Lieselotte Diem: Natürlich! Liebe und Sexualität sind wichtige Lebenselixiere, gerade im Alter. Aber „oll“ ist eher ein abwertender Begriff. Viele Ältere ziehen sich leider diesen Schuh an, dass „es sich nicht gehört“, im Alter sexuell noch aktiv zu sein. Zum einen spiegelt ihnen das die Gesellschaft, zum anderen haben sie die Vorstellung, dass Liebe im Alter etwas „Olles“ ist, selbst verinnerlicht.

Als Vegetotherapeutin nach Wilhelm Reich liegt Ihr Behandlungsschwerpunkt auf der Befreiung der Sexualenergie über die Auflösung negativer frühkindlicher Muster. Und was ist mit der Liebe?

Für Wilhelm Reich gehören Liebe und Sexualität immer zusammen. Mir begegnen aber oft zwei Phänomene: Sex ohne Liebe oder Liebe ohne Sex. Das Ziel einer guten Beziehung ist es, beides zu verbinden. Die Liebe bringt Tiefe in die Sexualität – und eine befriedigende Sexualität vertieft die Liebe.

Wie alt sind Ihre Klienten?

Meine Klienten sind derzeit zwischen 22 und 67 Jahren. Die Altersgruppe zwischen 40 und 60 ist besonders stark vertreten. Ich setze keine Grenzen. Manche wollen sich schon mit 30 nicht mehr bewegen, andere sind mit 60 hochmotiviert. Die meisten tun sich übrigens schwer, über Sexualität zu sprechen, auch wenn sie ein gutes Sexualleben haben. Sie fragen sich: Bin ich normal, wenn ich mit 70 noch Sex habe? Andere wagen es nicht, ein Leben ohne Sex im Alter in Frage zu stellen.

Was weiß man über Sexualität im Rentenalter?

Aus Untersuchungen geht hervor, dass eine 60-jährige verheiratete Frau mehr Sex hat als ein 30-jähriger Single-Mann. Es kommt auf die Lebensumstände an. Viele Frauen nach der Menopause fühlen nichts mehr und sprechen nicht darüber. Sie haben das Thema abgehakt, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben und innerlich verhärtet sind. In meinen Therapiegruppen habe ich aber auch Frauen erlebt, die nach der Menopause regelrecht aufblühten. Liegen nicht besondere Gründe vor wie eine unaufgearbeitete gescheiterte Ehe oder eine schwerwiegende Erkrankung, verhindert das Alter nicht notwendigerweise die sexuelle Lust. Und schon gar nicht das Bedürfnis nach Berührung und Zärtlichkeit.

Altern Männer und Frauen unterschiedlich?

Frauen vergleichen sich häufig mit ihren jüngeren Geschlechtsgenossinnen. Wenn ihr Mann jungen Mädchen hinterherguckt, verunsichert das zusätzlich. Männer dagegen kommen in die Leistungsfalle, „ob es noch klappt“. Frauen und Männer mit einem gesunden Selbstwertgefühl dagegen haben es einfacher. Genauso wie Menschen in einer glücklichen Partnerschaft.

Was ist mit all den Playboys jenseits der Verfallsgrenze, die trotzdem mehrere junge Frauen im Arm halten?

Das Geld spielt eine große Rolle. Welches junge Mädchen ist mit einem 80-Jährigen wahnsinnig glücklich? Erscheinungen wie Berlusconi sind für mich traurige Figuren. Sie haben potenzielle echte Lebenspartnerinnen verprellt. Für die jungen Frauen an ihrer Seite müssen sie bezahlen. Sex dient nur zur Bestätigung. Doch am Morgen nach der Party sind sie wieder alleine.

Was sagen Sie zu Viagra & Co?

Manche konsumieren Potenzmittel wie Alkohol oder Zigaretten. Sie werfen eine Pille ein, um sich ihre Potenz zu beweisen. Das ist nicht, was ich unter reifer Sexualität verstehe. Im Einzelfall aber kann der Einsatz von Viagra oder Cialis durchaus sinnvoll sein und etwa einem Mann in der Leistungsfalle helfen, den Teufelskreis von Versagensangst und beginnender Impotenz zu durchbrechen. Das beste und natürlichste Potenzmittel aber heißt: „In Übung bleiben“.

Setzt das nicht unter Leistungsdruck?

Die Gesellschaft mit ihrem Jugendwahn macht es älteren Menschen nicht leicht. Heute kleben Plakate von nackten Menschen oder Frauen in Dessous an jeder Bushaltestelle. Vieles ist sexualisiert. Es wird suggeriert: Wir sind total frei. Aber es ist eine Pseudofreiheit, die Leistungsdruck fördert und hinter der sich viel Scham und Angst verbirgt.

Das betrifft nicht nur Ältere...

Ja. Mit Selbstzensur und hinderlichen Glaubenssätzen quälen sich schon 20-Jährige. Sie finden sich zu dick, zu dünn oder den Busen zu klein. Werden ihre Probleme wie ein mangelndes Selbstwertgefühl oder Angst vor Nähe in jungen Jahren nicht aufgearbeitet, gehen diese im Alter nicht einfach weg. Das kann zu Beziehungskonflikten führen. Eine reife Beziehung setzt mehr voraus als einen strammen Busen oder ein Sixpack. Emotionale Reife ist ein viel stärkeres Aphrodisiakum als „Frischfleisch“.

Gibt es ein „Recht auf Sex“ in jedem Alter?

Ja! Natürlich hat jeder das Recht auf Glück. Für uns Reichianer besitzt eine gesunde Sexualität eine große biologische Kraft, die auch in späteren Lebensjahren weiter entwickelt werden kann. Man sollte sich aber nichts vormachen, natürlich kann ein 80-Jähriger nicht dasselbe „leisten“ wie ein 20-Jähriger. Wir sollten aber auch die Zärtlichkeit nicht vergessen. Durch Streicheleinheiten wird das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet.

Sind die Alten, die keine Lust mehr auf Sex haben, „nicht normal“?

Das will ich nicht bewerten. Jeder hat die Freiheit zu entscheiden, wie er sein Leben gestalten will. Meine Rolle ist es, die zu unterstützen, die sich etwas anderes wünschen. Sexmuffel gibt es übrigens in jedem Alter.