Gänsebraten, Christstollen, Plätzchen, Rotwein: An den Weihnachtstagen wurde in den meisten Familien ausgiebig geschlemmt. Doch kaum ist das Fest vorbei, liegt den Menschen das reichhaltige Essen schwer im Magen – und womöglich auch auf den Hüften. Dann meldet sich das schlechte Gewissen und die guten Vorsätze fürs neue Jahr werden gefasst. Eine Diät machen! Sport treiben! Selbst kochen statt essen gehen! Mehr Bio und weniger Fleisch, schon den Kindern zuliebe! Wie viel davon muss wirklich sein? Und womit schaden wir uns mehr, als dass wir uns Gutes tun? Darüber sprachen wir mit Udo Pollmer. Der Lebensmittelchemiker und Fachbuchautor für Ernährung ist bekannt für seine provokativen Thesen.
Berliner Morgenpost: Herr Pollmer, die fetten Feiertage sind vorbei. Müssen wir uns jetzt kasteien?
Udo Pollmer: Sich kasteien? Wer Spaß daran hat – bitte schön. Viele Menschen haben dazu keine Neigung. Essen bedeutet Energiezufuhr. Ohne Energie kann niemand arbeiten. Am meisten Energie braucht das Gehirn. Nicht nur die Kalorien, auch die Freude am Essen halten Leib und Seele zusammen, gerade in der kalten Jahreszeit.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Lichtmenge abnimmt, es draußen trüb und dunkel ist, sinkt die Stimmung. Da suchen die Menschen nach einem Weg, um besser durch diese Jahreszeit zu kommen. Zucker ist eine Möglichkeit. Zucker erhöht den Serotoninspiegel in unserem Gehirn, der sonst durchs Sonnenlicht auf einem angenehmen Niveau gehalten wird. Serotonin sorgt für Entspannung und hellt unsere Stimmung auf. Daher ist es nur natürlich, dass wir im Winter mehr Süßes naschen.
Aber liegt das nicht auch daran, dass die Industrie zur Weihnachtszeit besonders viele süße Verlockungen um uns herum aufgebaut hat?
Eben deshalb. Weil es wirkt und die Kunden diese Produkte suchen. Wenn Sie in Australien Weihnachten feiern – dort ist im Dezember Hochsommer – können Sie noch so viele Lebkuchen anbieten, sie bleiben links liegen und es kommen auch keine Weihnachtsgefühle auf. Es ist der Körper, der uns in aller Regel sagt, was er braucht und was er jetzt verlockend findet. Und da geht es nicht nur um Hunger und Durst. Es geht auch um Lebenslust und Wohlgefühl. Und das bekommen wir durch bestimmte Lebensmittel.
Welche denn?
Ein Beispiel aus der Weihnachtszeit: Der Lebkuchen ist mit seinem feinen Aroma eine Leckerei sondergleichen. Das Besondere an ihm ist das Triebmittel, nämlich Hirschhornsalz, chemisch Ammoniumcarbonat. Das reagiert mit den Inhaltsstoffen der Gewürze, so dass Amphetamine entstehen, also Stoffe, die die Stimmung des Menschen beeinflussen, vergleichbar mit Psychopharmaka. Der Lebkuchen sorgt also für bessere Laune. Wegen dieser Wirkung schmeckt er dem Menschen.
Essen als Droge? Drogen sind doch eher schädlich als nützlich....
In der Natur gibt es keine juristische Abgrenzung zwischen Nahrungsmittel, Genussmittel und Droge. Um von den Gehalten an stimmungsbeeinflussenden Stoffen im Weihnachtsgebäck abhängig zu werden, müssten Sie jedes Mal ein paar Kilo essen. Die kleine Dosis wirkt, aber kann nicht süchtig machen. Im Sommer sind Lebkuchen eh langweilig, weil der lange Sonnentag diese Sorte Stimmungsaufheller überflüssig macht.
Damit wäre der Körper ja doch der Verführte?
Nur das, was biologisch sinnvoll ist, wird vom Körper mit Wohlbefinden belohnt. Essen hat mit Biologie zu tun, genau wie Sexualität. Beides bringt uns Lebensfreude und Freiheit. Leider wird heute das Essen häufig als feindlich angesehen und bekämpft, so wie früher die Sexualität als schlimme fleischliche Verlockung verdammt wurde.
Ist es wirklich so schlimm?
Schauen Sie sich mal alte Schriften wider die Sexualität an: Hier könnte man das Wort „Selbstbefleckung“ ganz leicht durch das Wort „Übergewicht“ ersetzen, dann wären sie wieder modern. Dahinter steht die tradierte Vorstellung, dass der Körper den Menschen verführen will. Der Körper muss leiden und zerstört werden, damit die Seele in den Himmel kommt. Diäten sind da vielversprechend: Sie verkürzen die Lebenserwartung tatsächlich.
Doch es ist ja eine Sache, Essen zu genießen, und eine andere, an Übergewicht zu leiden. Denn das macht nachweislich krank.
Übergewicht macht also „nachweislich“ krank? Es ist genau umgekehrt: Krankheiten wie Hormon-Störungen sind eine wichtige Ursache von Übergewicht. Mit dem Gewicht ist das wie mit der Körpertemperatur. Fieber ist das Symptom einer Krankheit und nicht deren Ursache. Es stimmt aber: Im Winter steigt das Gewicht des Menschen etwas, weil die Kälte zu einer besseren Isolation führt – sprich zu mehr Unterhautfettgewebe. Und im Frühjahr sinkt das Gewicht automatisch, daher die „Frühjahrsdiäten“.
Wenn das Gewicht von selbst runtergehen würde, bräuchte man doch aber gar keine Diäten mehr...
Diäten sind vom Glauben beseelt, man könne über die Nahrungsaufnahme Körperform und Gewicht designen. Würde das funktionieren, würde heute niemand mehr über das Thema sprechen, es gäbe nicht jedes Jahr neue Diäten und neue Abnehmtipps. Alle Welt weiß eigentlich: Diäten machen dick. Mit Diäten Fettpölsterchen „abzuschmelzen“, ist so intelligent, wie wenn jemand mit Steinen nach der Sonne wirft, damit das Licht ausgeht. Da Diäten einen schlechten Ruf haben, versuchen viele durch Ernährungsmarotten ihr Gewicht zu kontrollieren. Das ist vielfach der eigentliche Grund für eine „vegane“ Ernährung. Leider wird das gerade bei Heranwachsenden zur Mode.
Wie entstehen Ihrer Meinung nach solche Moden?
Vor allem junge Menschen werden immer mehr in ihren Freiheiten eingeschränkt. Für alles gibt es Regeln und Fachleute, die jede Abweichung von jenen Normen, die sie sich selbst ausgedacht haben, mit Kassandrarufen begleiten und therapieren. Gerade junge Leute haben in einem solchen Umfeld kaum noch Raum, Neues auszuprobieren und übermütig zu sein. Da sucht der Mensch nach neuen Möglichkeiten der Individualisierung – und landet bei seinem Körper. Denn die persönliche Nabelschau ist noch erlaubt. Man erzählt den Menschen, sie könnten ihr eigenes Schicksal und das der Erde durch ihren Speiseplan entscheiden. So entstehen Ernährungsmarotten ohne Ende.
Dann meinen Sie, dass auch die Fructose-, Laktose-, Histamin- und Gluten-Unverträglichkeiten, von denen immer häufiger die Rede ist, nichts anderes sind als eine Modeerscheinung?
Da ist es schon schwieriger. Es gibt ja Menschen mit diesen Unverträglichkeiten. Meiner Erfahrung nach reden die Personen, die wirklich darunter leiden, aber nicht darüber, weil es ihnen unangenehm ist. Ich werde skeptisch, wenn jemand einen großen Wirbel macht. Kann sein, dass er nur seine Besonderheit demonstrieren will, Aufmerksamkeit gewinnen oder Rücksichtnahme einfordern.
Also haben diese Unverträglichkeiten nicht wirklich zugenommen? Wie viele Menschen in Deutschland sind denn tatsächlich betroffen?
Das ist schwer zu sagen, zumal die Betroffenen ganz unterschiedliche Toleranzschwellen haben. Beispiel Laktose: Der eine hat schon nach einem Löffel Milch schwere Symptome, der andere erst nach einem Viertelliter. Man kann aber sagen, dass durch bestimmte Ernährungsformen, die heutzutage modern sind, solche Unverträglichkeiten erworben werden. Zu viel Rohkost, zu viel Vollkorn: Das ist eben nicht gesund, sondern schädlich.
Was ist denn „zu viel“?
Sobald man davon Bauchweh, Blähungen und andere Verdauungsprobleme bekommt, war es zu viel. Der eine verträgt mehr, der andere weniger. Der Mensch verarbeitet seine Nahrung, er hat einen Teil der Verdauungsarbeit in die Küche outgesourct. Deshalb haben wir nur ein kleines Gebiss und einen verdammt kurzen Dickdarm im Vergleich zu den Menschenaffen.
Ist regionale Kost sinnvoll?
Im Prinzip ja, wenn man auf die Ökobilanz Wert legt. In der DDR war die Kost regional und saisonal, war aber nicht sehr beliebt. In den Tropen hat eine pflanzlich betonte Ernährung das bessere Ergebnis, weil es dort drei Ernten gibt. In Deutschland hingegen gibt das Klima nur eine Ernte her, außerdem ist etwa ein Drittel der Agrarfläche nur für Tierhaltung geeignet. Dort wachsen kein Brotweizen, keine Möhren und auch keine Ananas. Sprich: Die beste Ökobilanz erzielt man bei uns mit Sauerkraut und Kassler.
Ist das Ihr Ernst? Immer nur Sauerkraut und Kassler?
Wozu denn – wir haben heute eine so große Vielfalt an Nahrungsmitteln. Jeder Mensch kann doch Bananen essen, Kaffee trinken oder Caipirinhas trinken. Dadurch wird die Ökobilanz auch gar nicht so stark belastet, wie es oft heißt. Aus 80.000 Tonnen Getreide, die ein Frachter von Australien nach Cuxhaven transportiert, kann man 1,5 Milliarden Brötchen backen. Die Energie, die Millionen von Kunden verbrauchen, um ihre Brötchen vom Bäcker zu holen, ist größer als der Energieverbrauch des Frachters. Da viele Nahrungsmittel in anderen Regionen der Erde viel effektiver produziert werden können als bei uns, ist es sinnvoll, wenn die hocheffektive bayerische Milchwirtschaft ihren Käse nach Italien verkauft und die Bayern sich aus dem klimatisch günstigeren Italien Wein und Pasta liefern lassen. Würde man das umgekehrt machen, wäre das Essen auf beiden Seiten der Alpen knapp und teurer.
Vor allem Eltern beschäftigen sich viel mit dem Thema Ernährung und wollen alles gut machen. Wird da Ihrer Ansicht nach übertrieben?
Warum sollen sich Eltern nicht mit Essen beschäftigen, solange sie es nicht dramatisieren oder versuchen, die Kindermägen zu erziehen? Schon im Mutterleib registriert das Kind die Aromastoffe der Speisen und erkennt über die Hormone im Nabelschnurblut zudem, wie es der Mutter dabei geht. Wenn also die Mutter dem Ungeborenen zuliebe viel Rohkost isst, sie das in Wahrheit aber gar nicht mag, bekommt das Kind das mit. Es nützt also nichts, sich zu verstellen. Es gibt mehr Gründe, warum Kinder bestimmte Speisen ablehnen.
Welche denn?
Die Verdauungsfähigkeit ist beim Menschen ganz unterschiedlich ausgeprägt, zum Beispiel wegen der unterschiedlichen Enzymaktivitäten in der Leber. Manche Kinder essen Fleisch und Wurst mit großer Hingabe. Das sind die, die viel Magensäure haben. Andere haben weniger Magensäure. Die verlangt es morgens nach etwas Saurem wie Orangensaft. Danach sollte man sich richten, nicht nach irgendwelchen Normen für angeblich gesunde Kinderernährung.
Man sollte Kinder also nicht drängen, ausgewogen zu essen?
Nichts werden sie im Erwachsenenalter heftiger ablehnen als Speisen, die ihnen in der Kindheit aufgedrängt wurden. In Sachen Ernährung ist der Körper meist klüger als der Kopf, denn er hat viele Millionen Jahre Erfahrung darin. Unsere offiziellen Ernährungsempfehlungen werden alle vier Jahre revidiert.
Verwachsen sich andere Ernährungsgewohnheiten auch? Etwa dass manche Kinder zeitweise nur Nudeln oder Kartoffeln mögen und bloß kein Fleisch?
Ein Grund für solche Phasen ist, dass Kinder so die Wirkung der Speise auf ihren Körper besser ausprobieren können. Der Körper merkt sich die Wirkung auf den Stoffwechsel und kombiniert dies mit dem Geschmack der Speise. Dafür zuständig ist das sogenannte Darmhirn. Eltern entscheiden, was auf den Tisch kommt, aber nicht, was der Körper ihrer Kinder mag. Der Bauch, also das Darmhirn des Kindes trifft häufiger die richtige Entscheidung als der Kopf der Mama. Kinder können lernen mit Messer und Gabel zu essen. Aber der Darm ist für Erziehungsmaßnahmen nicht zugänglich. Also: Entspannt euch, liebe Eltern!
Was raten Sie Menschen, die im neuen Jahr bewusster essen wollen?
Anderen Menschen erteile ich nur ungern unerbetene Ratschläge. Ich bin schließlich kein Diätstrolch, sondern Lebensmittelchemiker. Ich wünsche Ihren Leserinnen und Lesern im Neuen Jahr einen gesunden Appetit. Essen Sie doch, was Sie wollen. Mahlzeit!