Flüchtlinge sind uns nah und doch so fern. Eine Initiative in Prenzlauer Berg will das ändern. Sie engagiert sich für syrische Familien.

Alles begann damit, dass Ines Stürmer ganz spontan im Frühjahr einige Kleidungsstücke in die Flüchtlingsunterkunft der Straßburger Straße brachte. Ein kleiner Junge kam auf sie zu und half ihr, die Tüten zu schleppen. Ines Stürmer lächelt, wenn sie sich an diese kleine Szene erinnert. Geredet haben die beiden nicht. Sie hätten sich sowieso nicht verstanden, weil sie nicht dieselbe Sprache sprechen, aber das war auch gar nicht nötig. Was zählte, war die Begegnung. Es war ein Moment, in dem Fremde zu Nachbarn wurden. Und in dem eine Idee geboren wurde: die Idee, eine Nachbarschaftsinitiative für Menschen zu gründen, die ihre Heimat verlassen mussten und in Berlin gestrandet sind.

Ines Stürmer, von Beruf Bauinformatikerin, wohnt mit ihrem Mann, dem Komponisten Henry Koch, in Prenzlauer Berg, nur ein paar hundert Meter von der Flüchtlingsunterkunft entfernt. Die beiden fingen an, im Kiez Baby- und Kinderkleidung zu sammeln. Es brauchte nur ein paar Flyer in Kitas, die Resonanz war enorm. „Überall, wo wir hinkamen, hieß es: Das ist super, ich wollte schon lange was machen“, erzählt Ines Stürmer. Viele Deutsche würden ja das Thema Flucht von ihren Eltern kennen oder seien selbst zu Kriegszeiten auf der Flucht gewesen. Dass sich dennoch die wenigsten trauen, Kontakt aufzunehmen, erklärt die Mutter eines erwachsenen Sohnes so: „Flüchtlingsunterkünfte sind keine schönen Orte. Das sind Massenunterkünfte. Dazu kommt das Sprachproblem.“ Da müsse man Barrieren überwinden. „Doch sobald man einmal da ist, ändert sich das“, sagt Ines Stürmer und lächelt wieder. Kann sein, dass sie an den kleinen Jungen denkt. Oder an die anderen Flüchtlinge, denen sie mit jedem Besuch in der Straßburger Straße näher kommt.

In der Gemeinschaftsunterkunft leben derzeit 200 Menschen, davon 80 Kinder. Es sind vor allem syrische Familien. Viele haben in ihrer Heimat und auf der Flucht traumatische Erfahrungen gemacht. In Prenzlauer Berg haben sie einen vorläufigen Schutzraum gefunden. Sie leben dort wenige Tage bis mehrere Monate, das hängt vom Verlauf des Asylverfahrens ab. Von der Möglichkeit, wieder ein normales Leben aufzunehmen, sind sie weit entfernt. Ines Stürmer und Henry Koch wünschen sich, dass sich die Menschen zumindest in Berlin willkommen fühlen und nicht allein gelassen. „Der soziale Kontakt ist genauso wichtig wie die praktische Hilfe.“

Täglich kommen neue Helfer

Die beiden sind längst nicht mehr allein. Aus der Kleiderspende-Aktion ist der Kreis der Unterstützer Straßburger Straße entstanden, eine Initiative aus mehr als 50 Menschen. Seit ein Kiez-Blog über das ehrenamtliche Engagement berichtet hat, kommen täglich weitere E-Mails von Nachbarn, die dabei sein oder spenden wollen.

Hausaufgabenhilfe, Kleiderkammer, Schulmaterialien sammeln, Singen, Klettern und Fußballspielen mit Kindern: Das sind nur einige der Projekte, die die Gruppe koordiniert. Weitere Ideen gibt es viele, darunter Deutschkurse, Lesen und Malen mit Kindern, Yoga für Frauen, ein Wochenend-Café. Hausfrauen, Lehrer, Therapeuten, junge Menschen und ältere – der Kreis der Unterstützer reicht weit.

Die Heimleitung freut sich, wenn Nachbarn Unterstützung anbieten. „In der Straßburger Straße gibt es fünf soziale Mitarbeiter für die Bewohner, aber einiges können sie nicht leisten“, sagt Susan Hermenau, Pressesprecherin der Prisod GmbH, die das Wohnheim betreibt. Vor allem fehle es an Unterstützung bei der Wohnungssuche und bei Besuchen der Ämter und Ärzte. „Dazu braucht man allerdings Sprachkenntnisse, am besten Arabisch, mindestens Englisch.“ Und es brauche Zeit und Einfühlungsvermögen, betont sie – bei allen Begegnungen. „Es gibt nicht den Flüchtling, so wie es auch nicht den Deutschen gibt.“ Tempo rausnehmen, die Perspektive des anderen mitdenken, nicht immer Recht haben und möglichst effizient sein wollen: Nur so könne eine Begegnung gelingen.

Schauen, was machbar ist

Kerstin Höckel weiß, was Susan Hermenau meint. Auch sie ist in der Straßburger Straße aktiv. Zweimal pro Woche bietet sie mit Henry Koch für jeweils eine Stunde eine Hausaufgabenhilfe an. „Ganz ehrlich: Da herrscht meistens Chaos“, sagt Kerstin Höckel und lacht. Nie sei klar, wer komme, so dass die Vorbereitung schwierig sei. Auch sei das Wissensniveau der Kinder völlig unterschiedlich. „Man muss immer aufs Neue schauen, was machbar ist“, sagt sie. Am Sinn ihres Tuns zweifelt sie dennoch nicht. „Die Flüchtlinge wollen nicht nur im Warmen sitzen und etwas essen“, sagt sie. „Das sind doch Menschen, das wird viel zu oft vergessen.“ Mit ihrem Engagement will sie ein Zeichen setzen, „ein kleines Licht anzünden, das weiter getragen wird“. Da erscheint ihr fast zweitrangig, wie effektiv die Hausaufgabenstunde ist.

Viele aus der Gruppe gehen, seit sie sich engagieren und mehr über die Schicksale der Flüchtlinge wissen, mit anderen Augen durch die Stadt. „Manchmal packt mich eine Wut, was einige Menschen hierzulande als Problem ansehen. Manchmal ist mir zum Heulen zumute und ich denke, ich müsste öfters was abgeben“, sagt Ines Stürmer. Manchmal empfindet sie aber auch einfach nur Glück. So wie am Nikolaustag.

Am 6. Dezember hatte der Kreis in den Theaterhof Fehre 6 eingeladen. Sich besser kennenlernen, Ideen sammeln: Das war das Ziel. Abdul Kader Asli, ein Musiker und Flüchtling aus Syrien, spielte und sang live zur Oud, der syrischen Laute. Neugierig lauschten die Unterstützerinnen und Unterstützer den fremden, sehnsuchtsvollen Melodien. Auch die Bewohner der Straßburger Straße waren eingeladen. Es kamen vier junge Männer und ein syrisches Ehepaar. Sichtlich berührt lauschten sie den Klängen aus der Heimat und wünschten sich im Anschluss von den Veranstaltern, nun auch einmal deutsche Musik zu hören. Eine vorsichtige Annäherung, ein erster Austausch. Nachbarschaftliche Begegnungen auf Augenhöhe. Ines Stürmer strahlte. So, finden sie und ihre Mitstreiter, kann es weitergehen.

Die Initiative: u_strassburger@posteo.de