Warum schreiben Menschen gerade in belastenden Situationen? Ist das Schreiben eine Form der Therapie? Darüber sprachen wir mit Kirsten Alers. Die Diplom- und Schreibpädagogin ist Lehrbeauftragte für Schreibgruppenpädagogik und -dynamik im Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der Alice Salomon Hochschule und im Vorstand des Segeberger Kreises, Gesellschaft für Kreatives Schreiben e.V.
Berliner Morgenpost: Frau Alers, was macht eigentlich eine Schreibpädagogin?
Kirsten Alers: Schreibpädagogen leiten Schreibgruppen an oder machen Einzelcoachings oder sie nutzen die Methoden in ihrem Beruf, etwa als Sozialpädagoginnen oder Psychologen. Dabei kann man sich auf unterschiedliche Schreibfelder konzentrieren: das literarische, das wissenschaftliche, das journalistische, das heilsame Schreiben.
Sehr viele Menschen schreiben für sich privat. Was macht das Schreiben so attraktiv?
Schreiben hilft, sich selbst besser zu verstehen. Max Frisch hat einmal gesagt: „Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Außerdem entlastet es: Indem man das, was einen bewegt, in Sprache packt, kann man sich davon distanzieren, es eventuell sogar loslassen. Dann gibt es das Motiv des Festhaltens: Gerade ältere Menschen wollen gern ihre Erinnerungen weitergeben. Und natürlich macht es auch einfach Spaß, kreativ zu sein.
Tagebuch, Brief, Prosa, Gedicht: Welche Form entfaltet die größte Wirkung?
Jede Form hat für den Autor ihren Reiz. Einem Tagebuch kann man sich heimlich anvertrauen. Der Brief zielt auf Kommunikation. Bei der poetischen Gestaltung in Form eines Gedichts oder eines fiktionalen Textes geht man in die Distanz zum Erlebten, indem man Personen und Geschichten erfindet. Über diese Distanzierung kann man womöglich auch eine Lösung für ein persönliches Problem finden.
Womit wir bei der heilsamen Wirkung wären. Ist Schreiben eine Form der Therapie?
Schreiben kann immer eine heilende Wirkung haben, auch unbeabsichtigt, eben weil es klärend und entlastend wirkt. Was das explizit heilende Schreiben angeht: Es ist in den USA anerkannte Therapieform und hier als Bewältigungstechnik von Psychologen, Psychotherapeutinnen und Medizinern anerkannt. Sogar positive Auswirkungen auf das Immunsystem konnten nachgewiesen werden.
Was heißt das: heilsames Schreiben?
Beim heilsamen Schreiben richtet sich – anders als in der Schulmedizin – der Blick nicht auf die Krankheit, sondern auf die Gesundheit, also die Ressourcen, die helfen, eine Krise zu bewältigen. Natürlich wirkt das heilsame Schreiben anders als ein Antibiotikum, das ja auch nur Symptome unterdrückt. Schreiben sollte regelmäßig betrieben werden, so wie Yoga. Dann entfalten sich Selbstheilungskräfte.
Wie funktioniert dieses heilsame Schreiben?
Es geht darum, Gefühle und Erfahrungen mit poetischer Sprache zu gestalten. Das Grauen kann benannt werden, wobei die begrenzte Form etwa von Gedichten Halt geben kann. Und wer sich selbst als Gestalterin erlebt, spürt Freude und Selbstwirksamkeit und nicht mehr in erster Linie Hilflosigkeit. Das sind nur einige der Möglichkeiten und positiven Aspekte. Das Schönste ist: Das Heilmittel – Stift und Papier – kann man immer dabei haben.
Wer schreibt, ist aber allein und auf sich zurückgeworfen. Kann das nicht auch zum Problem werden?
Wer sich in einer akuten psychischen Krise befindet, kann sich durch die schreibende Beschäftigung noch weiter reindrehen. Dann ist es besser, in Begleitung zu schreiben, etwa einer Psychotherapeutin oder einer Schreibgruppe.
Gibt es prominente Beispiele für heilendes Schreiben?
Christoph Schlingensief und Wolfgang Herrndorf etwa haben sich schreibend mit ihrer Krebserkrankung auseinandergesetzt. Marlen Haushofer hat mit der Fiktionalisierung in ihrem Roman „Die Wand“ möglicherweise einen Versuch der Selbstentlastung gestartet. Ich denke, jeder Text trägt autobiografische Züge. Die Autoren schöpfen ja den Stoff aus ihrem Leben. Vielleicht gibt es hochartifizielle Gedichte, denen man ihre problemlösende Funktion nicht mehr anmerkt. Dennoch kann die Autorin eine Beziehungsproblematik mit ihnen verarbeitet haben.
Inwiefern profitieren Leser von einer Literatur, die zur Bewältigung von Krisen, Krankheiten oder Problemen entstanden ist?
Betroffenen in einer ähnlichen Situation kann sie Mut machen und helfen, ihren eigenen Umgang mit dem Problem zu finden. Und als Nichtbetroffener erhält man einen Einblick in eine bisher fremde Welt.
Was macht einen Autor aus?
Grundsätzlich ist jeder ein Autor, der etwas schreibt und öffentlich macht. Aus der Sicht des Marktes ist aber erst der ein Autor, der sein Werk verkaufen kann. Und dann gibt es natürlich noch die Ebene der Qualität. Es braucht einen Inhalt und der muss in eine stimmige, korrespondierende literarische Form gebracht werden, und das zeitgemäß und möglichst originell. Ein Beispiel: Die Rose als Liebessymbol – das geht heute nicht mehr. Das ist nur noch ein Klischee.
Kann man Schreiben lernen?
Ja, das ist wie beim Musizieren oder künstlerischen Gestalten. Schreiben ist eine Kombination aus Handwerk und viel Übung. Aber natürlich werden nicht alle, die schreiben, ein Günter Grass oder eine Hilde Domin. Wie auch nicht jeder Yehudi Menuhin oder Meret Oppenheim wird.
Literaturtipp: Silke Heimes: „Warum Schreiben hilft“, „Schreiben als Selbstcoaching“