In ihrem neuen Zuhause hat sie Platz, viel Platz. Wenn sie duschen will, nimmt sie das Skateboard, denn das Bad liegt am anderen Ende eines langen Flurs. Ihr Kleiderschrank ist begehbar. Eine Schatzkammer, halb so groß wie die von Paris Hilton, bloß nicht so vollgestopft. Sogar einen eigenen Basketball-Platz gibt es hinterm Haus.
Von so einer Bleibe hat Anja Wilfling, 33, immer geträumt. Im Berliner Stadtteil Reinickendorf hat sie sie gefunden. Es ist ein Klassenzimmer im Gebäude einer ehemaligen Schule, dem Collège Voltaire. Ein Bullerbü im Grünen, das zu zerbröckeln drohte, als Lehrer und Schüler in Sommer 2011 in kleinere Räume in Tiergarten umzogen.
180 Euro warm zahlt die Voll-Juristin im Monat. Sogar für Reinickendorfer Verhältnisse, wo der Quadratmeter weniger kostet als im Berlin-Durchschnitt von 7,97 Euro, ist das ein Spottpreis. Das erklärt Anja Wilfling Leuten, die ungläubig staunen, wenn sie davon schwärmt, wie wohl sie sich hier fühlt, ein Zuhause im Grünen, den eigenen Parkplatz direkt vor der Tür. Sie sei aber Hauswächterin, keine Mieterin.
Bewohner auf Zeit
Der Unterschied ist wichtig. Hauswächter sind Bewohner auf Zeit. Anja Wilfling richtet sich nur so lange in ihrem Klassenzimmer ein, bis die Verwalterin, der Liegenschaftsfonds Berlin, einen Investor für das fünf Hektar große Areal gefunden hat. Drei Monate gelten als Untergrenze. Wenn Anja Wilfling Glück hat, kann sie fünf Jahre bleiben. Bewachung durch Bewohnung heißt die Formel, um leer stehende Immobilien vor Verfall und Vandalismus zu schützen. Und Menschen mit einem Sinn für alternative Wohnformen ein ganz besonderes Zuhause beschert.
Die holländische Firma Camelot macht es möglich. Seit 1993 setzt der Immobilienverwalter Menschen als Wächter in leer stehenden Krankenhäusern, Schulen, Polizeistationen oder Kirchen ein, erst nur in Holland, dann auch in Belgien, England, Frankreich, Irland und seit 2010 auch in der Bundesrepublik. Camelot, das ist der Hof von König Artus, dem sagenumwobenen König von Britannien, der unbesiegbar war, dank seines Schwertes Excalibur. Ein Burgturm, das ist das Logo der Firma. Er symbolisiert Schutz und Wehrhaftigkeit. Eigenschaften, die Hausbesitzer schätzen, besonders dann, wenn sie nicht selber in ihrer Immobilie wohnen und das Gebäude schon seit längerem leer steht. Die Folgen sind bekannt. Einbruchgefahr, Vandalismus, Wertverlust.
Ein lukrativer Markt für Sicherheitsfirmen, Hausmeister und Hersteller von Alarmanlagen. Doch die Dienste solcher Anbieter seien nicht nur verhältnismäßig teuer, sondern oft auch nicht besonders effizient, sagt Dirk Rahn, Business Development Director von Camelot Deutschland.
Im Camelot-Büro in Hamburg koordiniert er den Einsatz der Hauswächter in Norddeutschland, ein Kollege in Düsseldorf ist zuständig für den Süden. Zusammen betreuen sie 250 Wächter in Berlin, Hamburg, Essen, Schifferstadt. Dazu kommen Immobilien auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern und im niedersächsischen Winsen an der Aller.
Rahn sagt, ein 24-Stunden-Service für ein Gelände von der Größe des ehemaligen US-Militärhospitals in Berlin-Dahlem koste 8000 bis 10 000 Euro im Monat. Dagegen fange der Camelot-Preis bei 195 Euro pro Gebäude an. Der Vorteil der Hauswächter: Sie verbrächten nicht nur mehr Zeit im Haus und schreckten dadurch Einbrecher ab. Sie lernten das Gebäude auch bis in den letzten Winkel kennen und könnten schneller Alarm schlagen, wenn es irgendwo durchregne.
Sportplatz inklusive
In Berlin hat sich dieses Konzept schon bewährt. Als eine der ersten Firmen in Deutschland hat der Liegenschaftsfonds die Geschäftsidee der holländischen Immobilien-Ritter ausprobiert. Für das Land verwaltet er 4500 leer stehende Immobilien, vom Kindergarten bis zur Fabrik. In seiner Kartei hat er auch das ehemalige Collège Voltaire im Berliner Bezirk Reinickendorf, einst Herzstück der Wohnsiedlung für französische Alliierte, eine private Schule und ein Kindergarten für Diplomatenkinder. Ein Relikt aus der Zeit, als sich die Regierungen die Bildung ihrer Kinder noch etwas kosten ließen, mit Sportplatz, Tischtennis-Platten, Videoraum, Kantine und Hirnholzparkett in der Aula.
An ihre erste Begegnung mit diesem Kleinod im Grünen erinnert sich Anja Wilfling noch genau. Laub, das Lichtschächte und Abflüsse verstopfte, Wände, die mit Spinnennetzen übersät waren, vertrocknete Frösche im Keller. Das war im Herbst 2011. Wilfling, passionierte Surferin, Skaterin und Snowboarderin, zog im ehemaligen Kindergarten ein. Sie sagt, anfangs sei ihr noch ein bisschen mulmig zumute gewesen, wenn sie nachts zur Toilette musste und mit dem Skateboard über den langen Flur gebrettert sei. Doch heute, nach einem Abstecher als Camelot-Wächterin in ein ehemaliges Kinderkrankenhaus in Berlin-Lichtenberg, genießt sie Vorzüge ihrer ungewöhnlichen Unterkunft. Das Grün. Die Stille. Die Begegnungen mit den anderen Mitbewohnern.
Man trifft sich eher zufällig, in der Küche und an lauen Sommerabenden auch auf dem Hof. Das unterscheidet diese Gemeinschaft von anderen WGs. Alles kann, nichts muss. Es ist Platz genug, um sich aus dem Weg zu gehen.
Sie sind zu zehnt, die jüngste Anfang zwanzig, der älteste in den Fünfzigern. Alles Menschen, die auf der Reise sind. In diesem Biotop am Rande der Stadt können sie, wenn schon nicht das Gras wachsen, dann doch die Vögel gegen die Fensterscheiben prallen hören. Vor zwei Wochen hat es eine Blaumeise erwischt. Leo, Schauspieler, Barkeeper, Fitnesstrainer und neuerdings auch Lyriker, hat sie standesgemäß im Garten beerdigt. Ein Gedicht für die letzte Reise hat er ihr auch geschrieben. Was man eben so macht, wenn man wie er im vergangenen Jahr fünf Mal umgezogen ist und jetzt eine Auszeit nach einer Sportverletzung nutzt, um innezuhalten.
Leo, 34, bambi-braune Augen, jesus-gewelltes Haar, tritt ans Fenster und rezitiert einen Vers aus seinem ersten Lyrik-Band: „Warum der Tag nur 24 Stunden hat/Bleibt uns ein Leben lang verborgen/Wir starren ständig auf unser Ziffernblatt/Und zählen unsere Sorgen.“
Inspiration im Grünen
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein an diesem Ort. So etwas inspiriert auch Edgar, 51. In den 90er-Jahren war er nächtelang unterwegs, um die Reichen und Schönen für „Tempo“, „Bunte“ oder „Gala“ abzulichten. Dann kam der Bruch. Edgar murmelt etwas von einer Suchtklinik. Er tauchte ab in ein kleines Apartment in Neukölln. Er sagt, zum Schluss sei es ihm dort zu eng geworden. „Es war alles voller Bierflaschen.“
Im Collège Voltaire hat er die Freude an der Fotografie wiederentdeckt. Unscharfe Hunde, verwitterte Baumwurzeln, ein nachtblauer Himmel, das sind seine Motive. Partys darf er auf dem ehemaligen Schulgelände nicht mehr feiern, aber das, sagt er, störe ihn nicht. Es ist der Preis, den die Hauswächter zahlen müssen. Keine Kerzen, keine Kinder, keine Haustiere. So sind die Regeln. Sie stehen kleingedruckt auf Plakaten, die Camelot in jedem Gebäude aufgehängt hat. Edgar nimmt sie schon nicht mehr wahr. Er schlappt mit der Harke über den Hof, um den Basketballplatz von Blättern zu befreien. Arbeit entspannt. Er sagt: „Hier bist du mehr bei dir. Aber ich bin kein Voll-Esoteriker, okay?“
Anja Wilfling wohnt in der Grundschule gegenüber. Einmal ist sie schon auf dem Gelände umgezogen. Den Kindergarten hat der Liegenschaftsfonds jetzt an einen russischen Träger verpachtet. Ein Klassenzimmer, das ist ihr Reich. Eine Skaterrampe, ein Bett, ein Schreibtisch. Mehr hat sie nicht mitgenommen, als sie aus der Dachgeschosswohnung im Haus ihrer Eltern auszog.
Der Duft von Kreide und Prüfungsangst hängt noch in der Luft. Anja Wilfling verdrängt ihn auf ihre Art. Die Wand hinter ihrem Bett hat sie mit einer überdimensionalen Fototapete beklebt. Unter Palmen schläft es sich eben besser. Inzwischen ist aus dem Wohnen auf Zeit ein Full-Time-Job geworden. Camelot hat sie als Managerin für den Standort Berlin engagiert. 90 Bewohner haben die Holländer in drei Objekten untergebracht. Neben dem ehemaligen US-Militärhospital in Dahlem und dem Collège Voltaire hatte die Firma zwischenzeitlich noch ein ehemaliges Kinderkrankenhaus in Lichtenberg belegt. Jetzt hat die Wohnungsbaugenossenschaft Howoge das Gelände gekauft.
Viele der 55 Bewohner stehen jetzt vor der Entscheidung: Zurück ins Hotel Mama oder Schlange stehen für ein WG-Zimmer? Das ist die Kehrseite des Nomadenlebens. Die Bewohner genießen nicht dieselben Rechte wie Mieter. Bei Bedarf kann Camelot sie jederzeit vor die Tür setzen. Dennoch steht Anja Wilflings Diensthandy kaum still. Viele leer stehende Immobilien, eine steigende Nachfrage nach preiswertem Wohnraum: Das macht Berlin zur Hauptstadt der Hauswächter.
1800 Bewerber stehen Schlange
Knapp hundert Immobilien-Hopper leben an der Spree, 1800 Bewerber stehen auf dem Sprung. Seit die Mieten in der Stadt anziehen und selbst Durchschnittsverdiener aus luxussanierten Szene-Kiezen fliehen müssen, weil die Wohnkosten in fünf Jahren teilweise bis zu vierzig Prozent gestiegen sind, stoßen preisgünstige Alternativen auf lebhaftes Interesse.
Unter den Interessenten sind aber keineswegs nur Studenten oder Künstler, sondern auch Handwerker oder Beamte. Gerade hat bei Camelot in Hamburg ein Professoren-Paar kurz vor der Pensionsgrenze nachgefragt. „Die beiden wollen das Kommune-Leben ihrer Hippie-Zeit wieder aufnehmen“, sagt Dirk Rahn.
Neue leer stehende Immobilien müssen also her. Industriebrachen zu finden, ist an der Spree gar nicht so schwer. Früher als andere Städte hat Berlin solche Räume neu belebt, indem sie sie Künstlern oder Party-Veranstaltern zur Zwischennutzung überließ. Doch zum Wohnen eignen sich nur wenige Objekte. Bei der Suche nach neuen Immobilien sind die Firmen auf Tipps angewiesen.
Karsten Kiekheben hat sich als Scout angeboten. 47 Jahre alt, Crocs, Badeshorts, Sonnenhut. Sein Zuhause ist eine windschiefe Villa auf dem Gelände des ehemaligen US-Militärhospitals in Dahlem.
Weiße Klötze, die aussehen, als habe sie jemand in einer Parkanlage verstreut. Ein Labyrinth aus Lego. Bis vor fünf Jahren wurde hier noch operiert. Heute sagen sich Fuchs und Hase auf dem Gelände gute Nacht. Ein Schleichweg führt über einen leeren Parkplatz. Kniehoch schießt das Unkraut durch Ritzen im Asphalt. Man durchquert eine Gebäudeschlucht, dann steht man vor einer roten Backsteinvilla.
Karsten „Kiki“ Kiekheben kennt das Leben in leer stehenden Gebäuden seit mehr als 30 Jahren. 16 Jahre alt war er, als er von zu Hause auszog und in Kreuzberg ein Haus besetzte. Sein einziges Gepäck war eine Reisetasche. „Jetzt kehre ich zu meinen Ursprüngen zurück – diesmal allerdings ganz legal“, sagt er.
Vom Hausbesetzer zum Hauswächter
1982 hatten Freunde ein Haus in Berlin-Kreuzberg besetzt, und Kiki war mit dabei. „Ich wollte nie so bürgerlich werden wie meine Eltern“, sagt er, während er in der Hängematte im Garten seiner Villa in Dahlem schaukelt und Tabak auf ein Zigarettenblättchen bröselt. Sechs Tage die Woche arbeiten und dann am Sonntag Schweinebraten zum Mittag? Kiki rollt mit den Augen.
Ein Haus besetzen, das hieß für ihn zu feiern, sieben Tage lang, sieben Nächte lang. Immer genug zu rauchen und Musik von Madness. Darin bestand der Kick. Wie laut konnte man die Musik drehen? Volle Pulle Madness, „One step beyond“? Wann standen die Bullen vor der Tür? Wie weit konnte man gehen?
An sein erstes besetztes Haus erinnert er sich nur noch schwach. Ein Altbau vis-à-vis des Springer-Hochhauses. Spartanisch möbliert. Er sagt: „Es war eher ‘ne Party-Location als ‘ne Wohnung. Wir haben auf dem Boden gepennt. Dann wurde ein oller Herd gezockt und angeschmissen, eine Dose drauf – und fertig! Und am nächsten Morgen hat keiner gefragt, ob du dir die Zähne geputzt hast.“
Seine Mutter, sagt er, habe es mit Sorge verfolgt. Ihre Worte hat er noch im Ohr. „Aus dem Jungen wird nie was.“ Diese Bedenken sind passé. Kiki hat Forstwirt gelernt, inzwischen verkauft er Blumenzwiebeln auf Wochenmärkten, heute hier, morgen dort.
Die Villa auf dem Gelände des ehemaligen US-Militärhospitals ist schon Kikis zweite Station als Hauswächter. 2011 war er in ein ehemaliges Klassenzimmer des Reinickendorfer Collège Voltaire gezogen.
Ein Traum wird wahr
Und jetzt: Dahlem. 1A-Wohnlage, ruhig, aber citynah angebunden, 180 Euro im Monat warm. Früher wurden hier die Mitarbeiter geschult. Heute lebt er hier Tür an Tür mit der Waldorflehrerin Anna und mit Christoph und Josef, zwei American-Footballern.
Karsten Kiekheben sagt, als das Angebot von Camelot kam, habe er gerade eine reguläre Ein-Zimmer-Wohnung in Siemensstadt angemietet gehabt. Er war dabei, Laminat zu verlegen. Doch er hat die neue Wohnung sofort wieder gekündigt. Viel packen musste er nicht, seine Siebensachen passten in zwei Kombis, seit der Trennung von seiner Frau reist er mit leichtem Gepäck. Er sagt, von so einem Zuhause habe er immer geträumt.
Die Terrassentür zur Erdgeschosswohnung steht offen, der Treppenabsatz bröckelt langsam weg. Karsten Kiekheben kramt nach Werkzeug, um ihn zu reparieren. Was man eben so macht, wenn man als so genannter „Head Guardian“ die Schlüssel für das Klinikgebäude verwaltet.
Mitarbeiter des Max-Planck-Institutes und der Freien Universität Berlin teilen sich das Klinikgebäude mit Bewohnern einer Studenten-WG in der zweiten Etage. Firmen-Logos an den einen, Berge von Schuhen vor den anderen Türen. Probleme gab es bislang nicht. Die Wege der Nachbarn kreuzten sich nur im Fahrstuhl. Das könnte sich jedoch schon bald ändern, wenn auch die übrigen Untersuchungszimmer in der zweiten Etage als Büros vermietet werden. „Dann kann ich hier mittags nicht mehr im Pyjama herumlaufen“, sagt Student Marian.
„Schön hast du’s hier“
Die Regeln von Camelot hängen wie im ehemaligen Collège Voltaire auch hier in Dahlem auf dem Flur. Fluchtwege freihalten, keine Kerzen anzünden. Solche Sachen. Kiki rollt mit den Augen. Die Hausordnung gilt auch in seiner Villa Kunterbunt, aber dort sind er und die anderen wenigstens für sich. Er hat den Rasen gemäht und Blumenkästen bepflanzt. Was man eben so macht, wenn man sich wie ein Villenbesitzer auf Probe fühlen kann.
Neulich hat ihn seine Mutter aus Wilmersdorf besucht. Sie ist jetzt 74 Jahre alt und froh darüber, dass er da ist, wenn sie ihn braucht. Sie haben Kaffee getrunken auf seiner Terrasse, und sie hat erfahren, was einen Hauswächter von einem Hausbesetzer unterscheidet. Erstaunlich aufgeräumt war es hier, und die Nachbarn, so aufgeschlossen und höflich. Mutter Kiekheben geriet regelrecht ins Schwärmen. „Schön hast du‘s hier.“
Karsten Kiekheben schiebt sein Mountainbike über den Parkplatz vor dem Klinikgebäude. Wenn er durch die Gegend radelt, hält er schon nach neuen Objekten Ausschau, die sich für angehende Hauswächter eignen könnten. Gerade hat er ein traumhaftes Anwesen entdeckt: eine leere Villa in der Nähe des Bundesnachrichtendienstes (BND).
Selber einziehen würde er dort jedoch nicht, sagt der Freigeist. Die Regeln bei Camelot wachsen ihm schon jetzt über den Kopf. „Und wer weiß“, sagt er: „In dem neuen Haus haben die Wände vielleicht Ohren.“