Sie können früher rechnen, schreiben und lesen. Eigentlich ein Geschenk, aber für viele hochbegabte Kinder ist ihre Gabe vor allem ein Problem. Drei Beispiele aus Berlin.

Beim Steinmetz Pototzki in der Eisenacher in Tempelhof stehen wie immer die Grabsteine vor der Tür seines kleinen, gelben Häuschens. Rote, schwarze, glatte und unbehandelte Naturgrabsteine. Es ist Anfang September. Die Tage werden wieder kürzer, ein Herbstregen liegt in der Luft des Spätnachmittags. Die Blätter tragen schon Farbe. In Berlin gehen die Kinder wieder seit einem Monat in die Schule. Das ist jedes Jahr so. Nach den Sommerferien beginnt die Schule ausgerechnet dann, wenn der Herbst kommt, wenn der Jahreszyklus sich seiner natürlichen Depression annähert.

Matilda ist gerade von der Schule nach Hause gekommen. 7. Klasse Gymnasium. In der Grundschule hat sie mal eine Klasse übersprungen, ist von der ersten gleich in die dritte gegangen, ist dann aber später wieder zurück. Barfuß sitzt jetzt in ihrem Zimmer in der Mietwohnung ihrer Mutter und lässt eine Gespenstschrecke über ihre Hand laufen. Gespenstschrecken kommen aus Australien und sind so ungefähr die unheimlichsten Insekten der Welt. Sie sehen aus wie Blätter, haben nichts Nervöses, nichts Brummendes von europäischen Schrecken. Gerade das macht sie so unheimlich. Diese Ruhe. Matilda ist in der Insekten-AG. Nach der Schule beschäftigt sie sich noch mit Gespenstschrecken, wandelnden Blättern und Bohnen, Stabschrecken. Eine Vogelspinne haben sie auch in der Schule.

Groß ist das Zimmer nicht, und viel Kram steht da rum. Ein Cello, Trommeln, ein Terrarium, ein Aquarium, an den Wänden lauter Din-A1-Poster vom Bundesministerium für Umwelt. „Wir erhalten Lebensräume“ steht auf jedem einzelnen, dann planscht da eine Robbe rum, eine Möwe kreiselt darüber. Auf dem Schreibtisch liegen lauter Bücher, auf dem Boden sowieso und in der Ecke neben der Tür, da liegen noch mehr Bücher. Matilda heißt eigentlich ganz anders, aber ihre Mutter hat Bedenken, dass man den vollen Namen in der Zeitung lesen könnte, auch das Gesicht soll man nicht zeigen. Es ist so, als habe Matilda etwas Unerhörtes, etwas Schreckliches getan, als sei sie sehr krank. Dabei ist es eigentlich ganz anders.

2,2 Prozent der Deutschen hochbegabt

Matilda ist hochbegabt. Das heißt, sie hat einen Intelligenz-Quotienten, der größer gleich 130 ist, in Deutschland jedenfalls. Hochbegabung ist in Deutschland so definiert. Bei einer zufälligen Stichprobe des Intelligenzquotienten ergibt sich eine Normalverteilungskurve mit dem Mittelwert 100. In Deutschland ist der durchschnittliche IQ 100. Die Standardabweichung ist 15. Das heiß, dass die meisten Menschen einen IQ zwischen 85 und 115 haben. Damit aber von Hochbegabung gesprochen werden kann, muss die Abweichung zum Durchschnitts-IQ signifikant sein, sie muss die doppelte Standardabweichung betragen, somit beginnt Hochbegabung bei einem IQ von 130.

Umgekehrt ist das auch so, dass bei Menschen, die zwei Standardabweichungen unter der 100 sind, also ab einem IQ kleiner gleich 70, von Intelligenzminderung gesprochen wird.

Es ist davon auszugehen, dass 2,2 Prozent der Deutschen einen IQ größer gleich 130 haben. In Deutschland haben wir also etwa 1,77 Millionen Hochbegabte. Im Schuljahr 2012/13 gingen laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 323.724 Berliner noch zur Schule. Das heißt, es gibt etwa 7122 Hochbegabte in den Klassenzimmern. An jeder der etwa 760 Schulen in Berlin müssen jeweils etwa neun Hochbegabte unterrichtet werden. Aber was heißt das, hochbegabt zu sein?

Das Problem heißt Langeweile

Für Matilda heißt Hochbegabung Langeweile. Sie ist häufig als erste mit den zu erledigenden Aufgaben fertig. Weil sie das schon weiß, packt sie sich am Abend vorm nächsten Schultag weiter Bücher in die Tasche. Bis zu sechs Stück nimmt sie in die Schule mit. Dann kann sie lesen, während die anderen noch Wörter in Arbeitsblätter einsetzen. „Das Geheimnis von Port West“ liegt also schon in der Schultasche. Die Gespenstschrecke bleibt natürlich daheim.

Schon früh merkte Matildas Mutter, dass ihre Tochter Augen und Ohren viel bewusster benutzt. Sie war dreieinhalb und sie saßen im Auto in den Urlaub. Und die Mutter versuche gerade „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff aufzusagen, das war diese grüne Schönheit auf dem 20-DM-Schein. „O schaurig ist’s, übers Moor zu gehen / Wenn es wimmelt vom Heiderauche / Sich wie Phantome die Dünste drehn/ Und die Ranke häkelt am Strauche.“ Jedenfalls stockt die Mutter bald und weiß nicht weiter. Und Matilda, die hat die Ballade schon einige Male gehört. Mit dreieinhalb wird sie sie aber kaum gelesen haben. Die Sommerferienlandschaft zeiht vorbei und von der Rückbank kommt es „Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, / Wenn aus der Spalte es zischt und singt / O schaurig ist’s übers Moor zu gehn / Wenn das Röhricht knistert im Hauche!“

Ritalin zum Frühstück

Am Wannsee knistert das Röhricht tatsächlich dieser Tage. Im Garten des Wasserskiclubs serviert Annette Kaiser-Hoppe den feinsten Apfelkuchen, während ihr Mann Stefan mit dem Sohn Barnabas den Weg vom Parkplatz herunterkommt. Gerta, die flinke Hündin, stößt ein Bellen aus. Barnabas ist elf, und er gibt einem sofort die Hand, stellt sich vor, wie ein Erwachsener. Keine Schüchternheit, kein auf den Boden schauen. Barnabas ist hellwach. Auch er hat sich in der Schule gelangweilt, lieber blöckeweise gezeichnet, als dem Unterricht zu folgen.

Er ging damals auf eine private Waldschule in Zehlendorf. „Das war unser kleines Bullerbü“, erinnert sich Annette. „Die kleinste staatlich anerkannte Schule Berlins“, fügt Barnabas gleich hinzu. Maximal 18 Kinder in einer Klasse, ein bisschen Montessori, integrativ. Ein Boot legt am Steg an. Wie schön der Wannsee doch ist. Man sollte öfter hier raus. „Barnabas war immer interessiert, er wollte alles wissen. Er hat jedem Menschen Löcher in den Bauch gebohrt. Er war wie ein Schwamm, der alles aufsaugen will.“

Mit der Einschulung beginnen die Bauchschmerzen, die Migräne bei Barnabas. Die Schule wird zu einem schlimmen Ort für den Jungen. Schaut man Barnabas so an, den coolen Typ mit den langen Haaren wie Nick Valensi von The Strokes, dann kann man sich das gar nicht vorstellen. Barnabas jedenfalls schaltet völlig ab. Die Leistungen fallen ab, er beschäftigt sich nur noch mit sich. Annette und Stefan suchen Rat bei einem bekannten Jugendpsychiater am Adenauerplatz. Der diagnostiziert ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS). Ab der vierten Klasse gibt es Ritalin zum Frühstück. „Meine Eltern haben mir noch gesagt, dass durch die Tablette die Schulkonzentration besser wird. Ich hab die einfach genommen. Morgens ein Dreiviertelchen von der Tablette. Und dann meinte der Psychiater, vielleicht stimmt das ja mit dem ADS doch nicht.“

Barnabas’ Eltern sind so ratlos, an Ritalin hätten sie nie gedacht. „Das Thema Schule war wie ein Schwert über uns“, erinnert sich Stefan, „dann haben wir diese Tabletten genommen, und mal geschaut, was passiert.“ „Dabei sind wir ja eigentlich Öko-Eltern“, meint Annette.

Schließlich geht Barnabas zu einem Intelligenztest. Einen Termin beim schulpsychologischen Dienst in Steglitz-Zehlendorf zu finden, dauert ein Jahr. Im März 2012 hatten sie ihn angemeldet. Spätestens im April sollte der Test stattfinden. Weil die Ämter überfüllt sind, weil es größere Probleme als hochbegabte Kinder gibt, findet der Test schließlich im April 2013 statt.

Barnabas hört zusammen mit seiner Mutter das Ergebnis. „Ich war geschockt, als du mir erzählt hast, was du von mir gedacht hast“, sagt Barnabas. Greta bellt mal wieder. „Nein, Greta.“ Die Leistung hatten bis zum Januar dieses Jahres noch mehr abgenommen. „Ich dachte, er hat Legasthenie oder sonst etwas, ich sah mich schon die nächsten Kurse buchen, sämtliche Nachhilfeprogramme. Aber die Frau vom schulpsychologischen Dienst schaute mich an und sagte: ‚Wissen sie eigentlich, dass ihr Kind hochbegabt ist?‘ Mir kamen sofort die Tränen“. Barnabas nimmt seiner Mutter die Gedanken übel, aber er lacht dabei: „Das war echt gemein von dir.“

Nicht alles „Falsche“ ist auch falsch

Es scheint wirklich so zu sein, Hochbegabung in Deutschland heißt: Probleme haben. Lehrer und Lehrmaterialien sind nicht auf die 2,2 Prozent eingestellt. Zum Verständnis: Anstatt vollständige Sätze zu bilden, muss Matilda in der 7. Klasse einzelne Wörter in Arbeitsblätter einsetzen. Als sie Komposition durchnehmen, also die Bildung eines neuen Wortes durch die Verwendung mindestens zweier bereits vorhandener, dürfen sie wieder auf Arbeitsblättern Wörter mit Strichen verbinden. Der Füller geht also von „Gras“ zu „Grün“ und es entsteht „grasgrün“. Der Lehrer macht daneben ein Häkchen. Ginge der Strich jetzt von „Feuer“ zu „Grün“ gäbe es keinen Haken, weil es laut Lösungsbogen natürlich kein „feuergrün“ gibt. Dabei verbrennt zum Beispiel Kupfer grün. Wer also mehr weiß, wird bestraft. Dazu kommt noch, dass es in der Komposition von Wörtern kein richtig oder falsch geben kann, weil richtig oder falsch in der Hand des Komponisten liegt.

Es gibt aber auch Kinder, bei denen läuft eigentlich alles gut. Na ja, die Noten könnten besser sein, aber so zwischen zwei und drei, das geht schon okay. In Marzahn lebt Gino mit seinem Vater in einer kleinen Wohnung. Platte. Das Asylbewerber-Heim ist nicht weit. An der Erich-Kästner-Straße hängen Aushänge für Wohnungen, die bei 70 Quadratmetern 283 Euro kosten, Fernheizung ist dabei, Kabelanschluss, Küche, Bad, Elektroherd. Frei ab sofort. Gegenüber ist ein Automatencasino, Mäc Geiz, Penny und Kik. Im Wohnzimmer ist ein riesiges Sofa, gegenüber der Fernseher. Auf einem Regal stehen über zehn Pokale. Spielt bestimmt Fußball, der Gino. „Nein, die Pokale sind von meinem Vater.“ Und Sven antwortet: „Das sind Bowling-Pokale. Irgendwo ist aber auch ein Torschützen-Pokal. Ist aber schon zwei Tage her.“ Sven ist 35, Gino 10.

Seit sieben Jahren ist Sven von seiner Frau getrennt. Irgendwann liest der Kfz-Mechaniker in der Zeitung einen Beitrag über „Das klügste Mädchen der Welt“. Mit acht Monaten konnte das Mädchen damals schon sprechen, und er merkte, dass Gino das auch konnte. Ein paar Wörter jedenfalls. Als Gino zwei ist, fragt er den Vater, was die anderen Kinder auf dem Spielplatz denn von ihm wollen, er könne sie einfach nicht verstehen.

Ginos Lieblingsfächer sind Mathe und Erdkunde. An seiner Grundschule durfte er in den Matheunterricht mit den Schülern, die eine Klasse über ihm waren. Beim Flugzeugquartett schaut er sich zunächst jede Karte einzeln an, um sich die Zahlen darauf einzuprägen, bereits im Kindergarten kann er vierstellige Zahlen lesen. Vor zwei Jahren lässt Sven seinen Sohn testen. Bis heute verrät er ihm das Ergebnis nicht. Er möchte ihn nicht unter Druck setzen. Durch das Gespräch mit dem Reporter hat er Gino überhaupt erst gesagt, dass er anders als andere einen höheren IQ hat.

Manchmal liest man in Hochbegabten-Foren von Outing. „Soll ich mich outen?“ steht da ernsthaft in der Überschrift von Diskussionsthreads. Outing kommt ja ursprünglich aus der Homosexuellen-Bewegung, und war eigentlich als Flucht nach vorne gedacht. Wir erinnern uns noch an Rosa von Praunheim, der bei „Explosiv – Der heiße Stuhl“ Biolek und Hape Kerkeling outete. Outing klingt immer nach Zwang, nach einer Art Verantwortung, die das so vermeintliche Anderssein mit sich bringt. Als sei es eine moralische Verpflichtung, wenn man schwul ist, offen schwul zu sein. Als müsse man als Hochbegabter offen Hochbegabt sein, um anderen Mut zu geben, damit der persönliche Kampf mit den Umständen nachträglich als Märtyrium für das große Ganze gesehen werden kann. Vielleicht ist das gut so, wie Sven Müller das gemacht hat, vielleicht hätte er seinem Sohn auch gar nichts sagen sollen. Einfach in Mathe eine Klasse höher und den Rest ganz normal. Denn jetzt mit dem Wort „hochbegabt“ über den Köpfen, das klingt so groß.

Bei Barnabas und Matilda aber, da muss was gemacht werden. Beide haben in der Schule keine gute Noten, Matilda langweilt sich, fühlt sich unverstanden und bei Barnabas wurden Langeweile und Unverständnis pathologisch. Richtig depressiv wurde er.

Stefan und Annette hetzten von Experten zu Experten, von Lehrerkonferenz zu Lehrerkonferenz. Das Ritalin setzten sie eigenmächtig ab. Annette glaubte nicht daran, sie wollte es mit Placebos probieren. Nach zwei Monaten gab sie Barnabas Traubenzucker. Den Lehrern sagte sie, sie habe die Dosis jetzt richtig eingestellt. „Ja, das wirkt super“, sagten die. „Eigentlich ist das eine Beruhigungstablette für Lehrer. Bis auf ein paar Ausnahmen wollen die Lehrer Kinder haben, die Tabletten nehmen.“ Es klingt verrückt, was Annette aus ihren Erfahrungen erzählt, aber es ist glaubwürdig. Der Psychiater entschuldigt sich dafür, Ritalin verschrieben zu haben. Annette und Stefan, das sind engagierte Eltern, die sich Sorgen, aber keine Spinner.

Trotzdem überlegten sie, Barnabas nach Torgelow, nach Louisenlund zu schicken. Hospitieren muss man dort. Die Kinder werden probeweise dorthin geschickt. Teure Internate sind das, und es stellte sich heraus, dass auch die nicht passen. Am zweiten Tag rief Barnabas an und wollte nach Hause. Barnabas ist jetzt in der sechsten Klasse. Ab dem nächsten Jahr hat er einen Platz auf dem privaten Galileo-Gymnasium. Und auch wenn noch nicht alles rundläuft, er die verträumten und verzeichneten Mathestunden nachholen muss, durch das Engagement seiner Eltern kann er nach vorne schauen. Matilda träumt von kleineren Klassen und freut sich, nächstes Jahr die Reptilien-Ag besuchen zu können. Und ganz ehrlich, um Gino muss sich keiner Sorgen machen. Der macht sein Ding einfach weiter, als hätte er nie etwas davon gewusst.