Ein Ball nach dem anderen holen Arthur und seine Schwester Isabel aus den Regalen. Dann entdecken sie die beiden Bauarbeiterhelme - einer gelb, einer rot - und stolzieren damit durch die Ludothek. Ihre Mutter Chloe Daniel lächelt. und lässt ihre Kinder machen. In einem Spielzeugladen hätte sie jetzt vielleicht schon mahnende Blicke auf sich gezogen, aber die Ludothek, in einem Hinterhof der Immanuelkirchstraße in Prenzlauer Berg, ist kein normaler Laden. An den Wänden des großen, hellen Raumes stehen Holzregale, die bis zum Boden reichen, gefüllt mit Spielsachen. Wenn sich die beiden 20 Monate alten Zwillinge recken, kommen sie an ziemlich viele der Spielsachen, die vor allem aus Holz und Stoff sind, heran. Und ihre Mutter schätzt diese Freiheit.
Seit 2003 gibt es die Ludothek, hinter der der Verein "Fördern durch Spielmittel" steckt. Während 2003 noch 1200 Besucher kamen, waren es 2010 bereits mehr als 9000. Sie richtet sich in erster Linie an Kinder im Alter zwischen null und sechs Jahren, mit und ohne Behinderung. Es ist ein Spiel-Raum, aber die Spielsachen können auch gegen eine geringe Leihgebühr ausgeliehen werden. Vielleicht finden Arthur und Isabel beim nächsten Mal dann nicht ihr Lieblingsspielzeug, "aber das ist auch eine wichtige Erfahrung", sagt die Pädagogin Beate Punge, die die Ludothek mitaufgebaut hat, "nicht alle Spielsachen selbst zu besitzen, sondern sie zu teilen, sie gemeinsam zu nutzen".
Ort der Integration
Mindestens einmal in der Woche kommt Chloe Daniel mit ihren Kindern hierher und das schon seit etwa einem Jahr, als die beiden noch im Krabbelalter waren. Arthur und Isabel sind schon immer ganz aufgeregt, wenn sie in die Toreinfahrt einbiegen und sie freuen sich, wenn sie ihre Lieblingsspielsachen in den Regalen wiederentdecken. "Das ist für die beiden doch viel schöner, wenn sie die Sachen nur einmal in der Woche sehen, dann bleibt es etwas Besonderes für sie", erklärt die 29-Jährige.
"Die Ludothek hat Vorbilder in Ländern wie England, Frankreich und Italien, wo das Prinzip des Spielzeugausleihens schon lange üblich ist", erklärt Siegfried Zoels, Geschäftsführer des Vereins. Viele Ludotheken dort sind aus Spenden entstanden: Menschen tragen ihr Spielzeug zusammen, aus dem vielleicht ihre Kinder schon rausgewachsen sind, damit andere es nutzen können. So sind auch viele Spielsachen in der Ludothek in Prenzlauer Berg Spenden bzw. aus Spendengeldern erworben. Etwa 850 Spielsachen gibt es, davon 300, die es nur hier gibt. Es sind Spielsachen, die sich besonders an Kinder mit Behinderung richten, darauf legt der Verein besonderes Augenmerk. Die Ludothek versteht sich als ein Ort der Integration. Etwa 15 Prozent der Kinder, die hierherkommen, haben eine Behinderung.
Die Spielmittel, die es nur in der Ludothek gibt, sind vor allem in Kreativitätsworkshops entstanden. Dazu treffen sich Designer aus aller Welt, gehen zwei Wochen lang in eine Einrichtung für Behinderte und entwickeln aufgrund der dort gemachten Erfahrungen Spielzeug. "Es sind Spielsachen, die sich an den Fähigkeiten der Behinderten orientieren, nicht an ihren Einschränkungen", erklärt Zoels. Zum Beispiel entstand so eine Handpuppe als Vogel, der besonders gut von Kindern mit einer spastischen Störung bespielt werden kann. Mit einer Gummischlaufe lässt sich der Stoffvogel über die Hand ziehen, so dass Kinder, die Schwierigkeiten haben, etwas festzuhalten, ihn nicht verlieren. Wenn ein Kind nun sehr schnell seine Hände vor- und zurückbewegt - eine typische Bewegung für Spastiker - sieht es aus, als würde der Vogel fliegen. "Eine negative Bewegung wird hier positiv umgesetzt", erläutert Zoels das Prinzip.
Die Kreativitätsworkshops sind älter als der Verein "Fördern durch Spielmittel". Bereits 1980 hat Siegfried Zoels erstmals einen Kreativitätsworkshop in der DDR veranstaltet. "Damals gab es ja nichts für behinderte Kinder - das war eine ganz andere Situation als heute", erinnert sich Zoels. Seit 1990 werden die Workshops unter dem Dach der Unesco auf internationaler Ebene durchgeführt. 13 gab es bislang, insgesamt wurden hier etwa 200 neue Spielzeuge entwickelt.
Inzwischen gibt es fünf Bände mit Bauanleitungen zu den Spielzeugen. "Spielzeug gerade für Behinderte sind oft sehr teuer, hier gibt es eine günstige Möglichkeit für Erzieher und Eltern, die Spielmittel selbst herzustellen", erklärt Zoels. Und die Spielsachen werden auch im Verein hergestellt und verkauft. Denn neben der Ludothek und den Kreativitätsworkshops betreibt der Verein, der keine öffentliche Förderung erhält, auch eine Tischlerwerkstatt und eine Schneiderei, in der Menschen mit und ohne Behinderungen arbeiten. Außerdem gibt es ein Angebot zur Berufsvorbereitung für Jugendliche mit Behinderung. Sie kommen in ihrem letzten Schuljahr einen Tag in der Woche in die Holz- und Textilwerkstatt und können testen, welche Tätigkeit zu ihnen passen könnte. Außerdem bietet der Verein Seminare an: Eltern und Erzieher lernen zum Beispiel, wie bei Kindern mit Spielmitteln Kreativität geweckt werden kann.
Spiel- und Eltern-Treff
Auch in der Ludothek können Eltern sich beraten lassen, welche Spielzeuge sich für ihr Kind eignen. In erster Linie aber kommen sie, um ihre Kinder spielen zu lassen und weil sie sich als Eltern gern treffen. Auch Eva und Friederike verabreden sich und ihre zweijährigen Söhne Bela und Julius oft in der Ludothek. "Mir gefällt, dass es so viel Spielzeug aus Holz gibt", sagt Eva. Und es sei hier viel ruhiger als in einem Café oder Indoor-Spielplatz. Viele der Besucher könnten sich einen Besuch dort gar nicht leisten. In die Ludothek kann man sich seine Verpflegung selbst mitbringen, es werden aber auch selbstgebackener Kuchen und Getränke verkauft.
Der Besuch der Ludothek ist kostenlos, allerdings wird um eine Spende von einem Euro gebeten. Chloe Daniel zahlt das gern für ihre Zwillinge. Wenn sie Isabel und Arthur beim Spielen zuschaut, weiß sie, dass der kleine Geldbeitrag sich auf jeden Fall lohnt. Doch von der Eintrittsspende allein kann sich die Ludothek nicht halten. Sie ist auf Spenden, Sponsoren und Mitgliedsbeiträge angewiesen. Nur dann kann der Verein sein Ziel verwirklichen, weitere Ludotheken in Berlin aufzubauen, um die Idee von Spiel, Integration und Begegnung weiterzutragen vor allem in Gegenden, in denen viele Migranten leben. Eine zweite Ludothek gibt es bereits in Friedrichshain, gern würde Siegfried Zoels noch eine in Kreuzberg oder Neukölln eröffnen. Aber das ist Zukunftsmusik.