Frau Harman ist nicht religiös. Ihre Tochter hat sie, aus Überzeugung, auch weltlich erzogen. Aber vor einigen Wochen teilte Helin (12) ihrer Mutter mit, dass sie ab sofort in einem Chor der evangelischen Kirche das Lob Gottes singen wird. Und so sitzt jetzt Ayse Harman, 44 Jahre alt, Sachbearbeiterin, Alevitin und im Alter von 12 Jahren mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen, in einem Saal des Estrel Hotels und wartet auf den Beginn eines Gospel-Konzerts. Seit 2005 bringt die evangelische Kirchengemeinde Alt-Buckow einmal im Jahr den Youth Gospel Choir auf die Bühne. Zuerst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in diesem Jahr zum ersten Mal im Estrel. Chorbetreuer Christopher "Ernie" Bach: "Wir passten da nicht mehr rein. In diesem Jahr sind es 1400 Zuhörer."
Nach den Sommerferien zieht er mit Chorleiter Björn Fromm ("passt doch, der Name, oder?") durch die Neuköllner Oberschulen, macht Werbung für das Gospel-Projekt. 140 Kinder und junge Menschen zwischen 10 und 24 Jahren sind heute dabei. 70 Prozent wohnen in Neukölln, aber ein Mädchen ist auch für jede Probe aus Wolfsburg angereist.
Alle ganz in Weiß
Und es ist die Hölle los vor dem Kirchenkonzert. Im Umkleideraum stapeln sich in den Ecken, auf den Fensterbänken Haufen von Handtaschen, Haarspray, Haribo-Tüten, Jacken, Schuhen, Schals. Auf einem Tisch an der Seite stehen geplünderte Platten mit einigen übrig gebliebenen Käsebrötchen. Überall sind Kleidungsstücke verstreut, und der Lärm ist flughafentauglich. Alle müssen ganz in Weiß auftreten, strenge Ansage. Und das ist gar nicht so einfach: "Das Schwerste waren nicht die Proben. Das war, weiße Strumpfhosen zu finden", sagt Lisa Winter (17). Eineinhalb Stunden haben sie in Neuköllner Geschäften gesucht. Ihre Schwester Laura (15) singt in diesem Jahr schon zum zweiten Mal mit, und auch die Jüngste aus der Familie, Kiki (10), ist dabei. Die Mädchen haben alle sämtliche weißen Klamotten aus den Kleiderschränken geräumt, tauschen jetzt untereinander. Die Mädchen sind besonders gesprächig, die Jungs besonders lässig, damit niemand auf die Idee kommt, sie könnten Angst vor dem ersten Auftritt haben. Erst hinterher, da gibt jeder dann doch zu, den man fragt: "Doch, Lampenfieber hatte ich schon."
Miriam Schäfer, Sängerin, Songwriterin und jetzt, so kurz vor dem Auftritt, Motivationstrainerin, pfeift schrill auf zwei Fingern. Das hat sie als Kind von ihren beiden Brüdern gelernt, und es ist sehr nützlich - plötzlich ist Ruhe, und sie kann das Einsingen beginnen.
Vuong (18) trinkt noch einen Schluck Wasser vor den Stimmübungen. Seine Eltern stammen aus Vietnam, die Familie ist katholisch. Ernie und Björn haben ihn bei ihrem Auftritt im Albert-Einstein-Gymnasium vom Chor überzeugt. Aber Gospels sind doch protestantisch, und Katholiken tanzen auch normalerweise nicht, wenn sie Kirchenlieder singen? Findet Vuong unerheblich: "Wir haben hier auch Türken, die sind Moslems. Und die haben kein Problem damit."
Im großen Saal bekommt gerade Chorleiter Björn den ersten Applaus. Das Mikro funktioniert nicht, und auf den beiden Bildschirmen rechts und links der Bühne sieht man ihn in Großaufnahme reden. Ohne Ton zwar, aber er sieht sehr sympathisch dabei aus. Dann kommen die Kinder. In Zweierreihen, diszipliniert und in tadelloser Haltung stellen sie sich auf der Bühne auf, und mit unschuldigem Lächeln - das haben ihnen die drei Profis eingeschärft. Die Lichtanlage wirft helle Bogen wie von Kirchenfenstern an die Wand hinter ihnen.
So engelsgleich haben die meisten Eltern ihre Kinder noch nie gesehen. Ayse Harman muss grinsen: "Helin ist sonst eher - ein lebhaftes Kind..."
Und dann ist Ruhe im Raum, dann singen sie. Lisa findet eigentlich, dass sie gar nicht singen kann. Kiki wollte auf Lauras Stimme hören, um den richtigen Ton zu treffen. Und Laura fürchtete vorher: "Wenn ich anfange, falsch zu singen, und alle anderen mitziehe, das wäre schlimm." Passiert auch nicht.
Nach dem ersten Song brüllt und johlt das Publikum, die Eltern, die Freunde, die Angestellten der Walter Schulze GmbH aus Neukölln (Werbetechnik), die jedes Jahr dabei sind. Das Durchschnittsalter liegt irgendwo zwischen 30 und 40, und sie klingen so begeistert wie kleine Mädchen beim Konzert von Tokio Hotel. Das Licht wechselt von Bogenfenstern zu himmlischen Strahlen über den Häuptern der Kinder. Sehr amerikanisch für preußische Protestanten. Und die Veranstaltung ist sehr religiös für das Estrel, in dem sich sonst Geschäftsreisende und Kongresse einquartieren und die Besucher zur Doppelgänger-Show kommen. Die läuft gerade nebenan, und eigentlich erwarten sie heute noch "Elvis" als Überraschungsgast. Aber, wie Gemeindepfarrer Helmut Michel sagt: Elvis ist nicht nur tot. Er ist auch noch krank geworden und hat abgesagt." Der Pfarrer führt als Conferencier durch das Programm des Abends, und er hat so einen Alt-Buckower Grandseigneur-Charme - wenn er über seine Brille gütig ins Publikum schaut, erinnert er an Blacky Fuchsberger. Irgendwann zieht er die Mundharmonika aus der Tasche und intoniert einen Blues, dann beginnt er seine nächste Ansage: "Als ich auf dem Weg hierhin am U-Bahnhof Joachimstaler Straße vorbeifuhr, wurde gerade das Blut eines Selbstmörders von den Schienen gewischt..." Es folgt eine Kurzansprache über Leben und Trauer.
Louis Armstrong vertritt Elvis
Der junge Gospelchor singt weiter. "Walk in Faith", "I adore You" heißen die Lieder, und "Louis Armstrong", der von der Double-Show nebenan in Vertretung von "Elvis" vorbeigekommen ist, begleitet sie beim "Ave Maria". Die Eltern sind stolz. Die anderen im Publikum hingerissen.
"Singen ist älter als die Menschheit", sagt der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger. Buckelwal-Mütter singen ihren Kleinen etwas vor, Mäuse auch. Es stärkt die Bindung: "Es deutet vieles darauf hin, dass gemeinsames Singen von der Evolution als sozialer Kitt gemeint ist."
Und selbst singen, so Bossinger, macht außerdem gesund: "Kalifornische Forscher haben nach einem Chor-Auftritt Speichelproben der Sänger genommen. Die Konzentration von Immunglobulin A war um 240 Prozent erhöht."
Bossinger möchte Gesangsrunden am liebsten deutschlandweit in allen Kliniken hören, seit 2009 leitet er das Netzwerk "Singende Krankenhäuser". Die Uni-Klinik Köln ist schon dabei, und auch in der Psychiatrischen Klinik Lüneburg singen sie bereits. Weil Singen auch ein Anti-Depressivum ist. Oxytocin, das Hormon der Verbundenheit, Glückshormone wie Endorphine und Dopamin werden vermehrt produziert. Bossinger: "Ein Glückscocktail."
Und Singen im Gospel-Chor - das findet der "Gesangsaktivist" (Bossinger über sich) besonders glücklich: die Verbindung von Musik und Bewegung, die Emotionalität. "Gospel verbindet, wie die jüdische Musik-Tradition, Wehmut und absolute Lebensfreude, die beiden Pole der menschlichen Existenz. Rhythmus und Sehnsucht."
Singen, bis sie heiser sind
Auf der Bühne singen sie jetzt "Immanuel", in einigen Reihen sind die Zuschauer aufgestanden und tanzen vor den Stühlen mit. Lisa, Laura, Kiki und die anderen lächeln jetzt nicht mehr nur, weil sich das bei einem professionellen Auftritt so gehört. Sie strahlen. Dafür haben sie gearbeitet, zweieinhalb Stunden jede Woche seit den Sommerferien, Probe immer montags von 18 bis 20.30 Uhr. Lisa: "Das war das Beste. Die anderen treffen, diese Gemeinschaft jeden Montag."
Das sieht Wolfgang Bossinger ebenso: "Gemeinschaft ist ein Urbedürfnis des Menschen. Neuere Forschungen haben ergeben, dass Ausgrenzung dieselben Hirnareale aktiviert wie körperliche Schmerzen. Zusammensein dagegen, soziale Resonanz, Teil der Gruppe zu sein - das scheint dem Menschen lebensnotwendig. Und Singen gehört dazu."
Paolo ist mit 20 Jahren einer der Großen, der Erwachsenen. Sein Vater stammt aus Sizilien, die Mutter aus Stettin. Paolo ist Jura-Student und von Geburt an Katholik. Und gläubig? Er denkt nach: "Immer gläubiger. Und nach solchen Auftritten sowieso."
Und heiser wird er am nächsten Tag auch sein, sagt er. Professor Tadeus Nawka, Oberarzt an der Charité-Klinik für Audiologie und Phoniatrie in Mitte: "Singen kann gesund sein, weil man lernt, sehr gefühlvoll mit den Atmungsorganen umzugehen, den Atem zu dosieren. Aber gerade Chorsänger neigen dazu, mit zu viel Kraft zu singen, um sich selbst noch zu hören." Das merken die aber auch selbst, sagt der Professor - am nächsten Tag, wenn sie heiser sind.