Erste Hilfe

Schnelle Hilfe für Kleinkinder

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Judith Jenner

Foto: Michael Brunner

Eltern wissen oft nicht, wie sie sich im Notfall verhalten müssen. In einem Kurs im Kreuzberger Elterntreff können sie es lernen

Es war nur ein kurzer Moment, den Gancagül Azman (28) ihren Sohn Yilmaz aus den Augen ließ. Der Einjährige verlor bei seinen Gehversuchen das Gleichgewicht, stieß mit dem Kopf an die Waschmaschine und schrie wie am Spieß. Zum Glück hatte Yilmaz nur eine Beule, die mit tröstenden Worten schnell vergessen war. "Aber wenn etwas Schlimmeres passiert wäre, er zum Beispiel stark geblutet hätte, dann hätte ich nicht gewusst, wie ich darauf richtig reagieren sollte", sagt die Mutter aus Neukölln.

Schrecksekunden wie diese kennen fast alle Eltern, die an diesem verregneten Vormittag in den Elterntreff "Maravilla" gekommen sind. In dem hellen Kreuzberger Ladengeschäft finden sonst Yogakurse für Schwangere, Pekip- oder Spielgruppen statt. Heute sitzt Janko von Ribbeck aufrecht im halben Lotussitz auf einer Decke am Boden. Vor ihm kugeln acht Babys über grüne Gymnastikmatten. Entlang der Wände haben es sich ihre Eltern bequem gemacht. Janko von Ribbeck hat sich mit seiner Frau Mirjam, die Kinderkrankenschwester ist, auf Erste-Hilfe-Kurse für Eltern spezialisiert. Ein Krabbelkind erkundet neugierig seine rote Arzt-Tasche, während die Teilnehmer erzählen, was sie herführt:

Kenntnisse auffrischen

Detlef und Dagmar Rienke aus Lichtenrade sind Großeltern eines 14 Monate alten Kindes, das häufig bei ihnen ist. "Mein letzter Erste-Hilfe-Kurs ist so lange her, dass ich mich auf den neusten Stand bringen will", sagt Detlef Rienke (63). Eine andere Teilnehmerin, Birgit K., plant mit ihrem sechs Monate alten Sohn einen längeren Urlaub auf Kreta in einem abgeschiedenen Bergdorf. Die 43-Jährige will wissen, wie sie sich verhalten soll, wenn sich Max böse stößt oder plötzlich hohes Fieber bekommt. Was kann sie selbst in einer solchen Situation tun, wenn der nächste Arzt 200 Kilometer entfernt ist?

Ein anderes Paar ist gerade in eine Wohnung mit vielen Treppen gezogen. "Was sollen wir machen, wenn der Kleine dort aus zwei Metern hinunterstürzt?", fragt der Vater.

"Es passiert weniger als man denkt", beruhigt Janko von Ribbeck. "Kleine Kinder sind sehr robust und ihre Körper elastisch, sodass Stürze ihnen oft nicht so viel ausmachen." Janko von Ribbeck hat selbst vier Kinder im Alter zwischen drei und 15 Jahren und eine homöopathische Praxis in München. Sieben Jahre war er Rettungssanitäter und Ausbilder bei den Johannitern. "In dieser Zeit musste ich nie ein Kind wiederbeleben."

Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Kinder das Bewusstsein verlieren, zum Beispiel bei Badeunfällen. So ein Unfall kann selbst im Plantschbecken mit wenig Wasser passieren. "Das Kind muss nur ausrutschen und mit dem Gesicht in der Pfütze landen, es bekommt einen Schreck und regt sich nicht mehr. Dann ertrinkt es möglicherweise im knöcheltiefen Wasser", sagt von Ribbeck. An einer Puppe zeigt er das Beatmen durch Mund und Nase und die Herzdruckmassage. Dann sind die Eltern dran.

Probleme mit der Atmung und Verschlucken sind die häufigsten Fälle, in denen man bei Kindern Erste Hilfe leisten muss. "Das liegt daran, dass die Atemwege noch recht dünn sind", sagt Janko von Ribbeck und hält zum Vergleich einen Stift hoch. Gerade wenn sie ihre ersten Erfahrungen mit fester Nahrung machen, kann es schnell sein, dass ein Krümel oder ein Stück Apfel in die Luftröhre gerät. Dann muss man schnell handeln. "Ist das Kind noch klein, nehmen wir es an den Beinen und hängen es mit dem Kopf nach unten. Oder wir legen es, wenn es für diese Methode zu groß ist, übers Knie und klopfen auf den Rücken", sagt von Ribbeck. Hilft diese Maßnahme nicht, kommt das "Heimlich-Manöver" zum Einsatz, bei dem man die Arme von hinten um den oberen Bauch schlingt und nach oben drückt. Auf Janko von Ribbecks Website oder in seinem Buch "Schnelle Hilfe für Kinder" kann man sich die lebensrettenden Griffe ansehen. Neben Erdnüssen oder Karottenstückchen sind zerplatzte Luftballons oder die klebenden Verschlusslaschen von Taschentuchpackungen sehr gefährlich für Krabbelkinder. "Sie sollten nie auf dem Boden herumliegen", sagt er.

Wenn Kinder ab einem Alter von etwa sechs Monaten mobiler werden und auf Entdeckungstour gehen, sollte die Wohnung kindersicher gemacht, also Steckdosen verschlossen, Regale angedübelt, Putzmittel sicher verstaut werden. Janko von Ribbeck empfiehlt auch einen Schutz am Herd anzubringen, damit Töpfe nicht hinunterfallen können. Bei Zimmerpflanzen sollte man sich informieren, ob Blätter oder Blüten giftig sind und die Töpfe gegebenenfalls aus der Wohnung entfernen. Janko von Ribbeck hält einige Tafeln mit Giftpflanzen hoch, die teilweise sehr verbreitet sind in Berliner Grünanlagen und Gärten. Das interessiert Julia Baer (30) besonders. Denn sie besucht den Kurs vor allem deshalb, weil sie mit ihrem dreieinhalb Monate alten Sohn Marlon in einem Haus mit Garten lebt und dort Gefahren für den Kleinen wittert.

Pillen, die wie Bonbons aussehen

Im Haus können schäumende oder ätzende Putzmittel den Kindern gefährlich werden. Besonders beliebt bei den Kleinen sind die aggressiven Spülmaschinen-Tabs. "Auf keinen Fall sollte man die Kinder erbrechen lassen, wenn sie etwas Giftiges geschluckt haben", sagt Janko von Ribbeck. Stattdessen sollten sie ein Glas Wasser, aber keine Milch nachtrinken. Medizinische Kohle bindet das Gift im Magen, wenn giftige Pflanzen oder Zigaretten geschluckt werden.

Im Zweifelsfall hilft die Giftnotrufzentrale weiter: Tel. 030/19240. Dort hat Dagmar Scholz (36), Tagesmutter aus Zehlendorf, schon mehrmals angerufen, zum Beispiel als ein Kind einen Pinsel mit Lackfarbe abgeleckt oder die Blätter einer Zimmerpflanze angeknabbert hatte. Ein anderes Mal schluckte ihr eigener Sohn eine starke Herztablette, die er am Badesee fand und die wie ein Smartie aussah. "Zum Glück war das alles nicht gefährlich", sagt sie.

Immer wieder kommt die Frage: Wann muss das Kind zum Arzt? Wann rufe ich 112? "Generell sollte man den Notruf lieber einmal zu oft anrufen", sagt Janko von Ribbeck. Das Gleiche gelte für den Besuch beim Kinderarzt oder in der Notaufnahme des Krankenhauses. Wenn man mit einem Kind ins Krankenhaus geht, dann immer in eines mit Kinderabteilung. "Ein Alarmsignal ist zum Beispiel, wenn sich ein Kind nach einem Sturz übergibt oder plötzlich einschläft", sagt Janko von Ribbeck.

Der ehemalige Rettungssanitäter ist ein direkter Nachfahre des freundlichen Herrn Ribbeck von Ribbeck im Havelland, über den einst Theodor Fontane dichtete, und hat selbst mit seinen Kindern schon so einiges erlebt. Mit vier Jahren kokelte sein Sohn und brannte dabei fast eine ganze Scheune an. Ein anderes Mal purzelte sein Jüngster mit dem Bobby-Car kopfüber die Treppe hinunter. Ernsthafte Verletzungen trugen sie nicht davon, "aber ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, dass man sich mit Erster Hilfe auskennt."

Gancagül Azman fühlt sich nach dem Kurs gut gewappnet für Notfälle. Ihr Fazit: "Der Kursus hat mir die Panik genommen. Jetzt weiß ich, wie ich mich im Ernstfall verhalten muss."