Es waren vielleicht die aufregendsten zwei Stunden in seinem elfjährigen Leben. Zumindest steckte Leon aus Charlottenburg wohl noch nie vorher in einer ähnlichen Prüfungssituation. Mit ihm waren 17 Hockey spielende Kinder zum Sichtungstermin der Poelchau-Oberschule gekommen, einer der drei Berliner Eliteschulen des Sports.
Zwei Stunden absolvierten sie ein Training unter den strengen Augen einer Jury aus Mitgliedern des Landessportbundes und des zuständigen Hockeylehrers der Schule. Zwei Stunden kämpften 14 Jungen und vier Mädchen um acht Schulplätze in der siebten Klasse der Charlottenburger Schule. Es traten Kinder gegeneinander an, die im Training eigentlich Freunde sind.
Auch viele Eltern sehen sich in diesen Tagen einem harten Wettbewerb ausgesetzt, wenn es um den Wechsel ihrer Kinder von der sechsten zur siebten Klasse, also von der Grundschule auf eine weiterführende Schule geht. Zum kommenden Schuljahr haben sich die Aufnahmekriterien geändert, was es für viele der 27 133 Sechstklässler und ihre Eltern schwieriger macht, die Chancen für einen Platz auf der Wunschschule realistisch einzuschätzen.
Der Wunsch, nach der sechsten Klasse auf die Poelchau-Schule zu wechseln, ging von Leon selbst aus. In seinem Hockeyverein kannte er andere Kinder und Trainer, die die Schule bereits besuchen. Leons Eltern hatten zunächst an ein Gymnasium gedacht, weil ihr Sohn auch eine entsprechende Förderprognose bekommen hat. Doch sie haben schnell gesehen, dass eine Sportschule Leons Interessen entgegenkommt. Es überzeugt sie, dass Leons sportliche Leidenschaft im Rahmen dieser Schulkonzeption zentrale Bedeutung erfährt und entsprechend wertgeschätzt wird. Gleichzeitig sind die schulischen Rahmenbedingungen ideal, weil höchstens 18 Kinder und in den Kernfächern zwei Lehrer in einer Klasse sind. Dennoch bleiben Zweifel: Was ist, wenn sich Leon verletzt, wenn er nicht mehr Hockey spielen kann? Welche Schule nimmt ihn dann?
Gefühl der Ohnmacht
Ein Gefühl von Machtlosigkeit bestimmt derzeit viele Berliner Eltern, auch die der elfjährigen Celine, die jetzt die sechste Klasse einer Wilmersdorfer Grundschule besucht. "Den Kindergarten meiner beiden Töchter habe ich sorgfältig ausgewählt, auch bei der Grundschule gab es noch einen gewissen Spielraum - aber jetzt habe ich den Eindruck, kaum noch Einfluss auf die Entscheidung zu haben", sagt Celines Mutter Michaela. Und das, obwohl Celine fast nur Einsen und Zweien auf dem Zeugnis hat, also in ihrer Förderprognose eine klare Empfehlung fürs Gymnasium erhalten hat. "Aber was ist, wenn sich so viele Schüler bei einer Schule bewerben, dass sowieso nur Kinder mit einem Notendurchschnitt von 1,0 aufgenommen werden?", spinnt Michaela ein mögliches Szenario - da käme dann auch ihre Tochter nur noch in den großen Lostopf. Zwar hat Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) immer wieder versprochen, dass jeder, der auf ein Gymnasium will, auch einen Platz dort bekommt, aber die Unsicherheit der Eltern bleibt.
Schon seit Celine in der vierten Klasse ist, war der Schulwechsel Thema. Damals verließen die ersten Kinder die Schule, um auf ein grundständiges Gymnasium zu wechseln, und hinterließen bei den Kindern und Eltern, die blieben, eine gewisse Unruhe. In den vergangenen Monaten hat Celines Mutter sich dann verstärkt umgehört, hat bei Schulen angerufen, sich über deren Konzept informiert. "Es ist ja gar nicht so leicht, überhaupt herauszufinden, was eine gute Schule ausmacht", hat sie dabei gemerkt. Vielen Schulen eilt seit Jahren ein guter oder schlechter Ruf voraus, der vielleicht längst revidiert werden müsste. Wichtig war Michaela, dass "Celine eine Schule vorfindet, die anders ist, als ich sie vor 20 Jahren verlassen habe". Sie möchte, dass die Schule reformbereit ist, zum Beispiel Blockunterricht eingeführt hat oder mit modernen pädagogischen Methoden arbeitet. Und sie sollte Französisch als zweite Fremdsprache anbieten. All das hat sie in Telefonaten und an den Tagen der offenen Tür abgefragt.
Nun haben Celine und ihre Eltern drei Schulen ausgewählt, die sie in der kommenden Woche auf den Anmeldebogen schreiben werden. Welche das sind, will Michaela nicht preisgeben. So offen will da heute - so kurz vor dem entscheidenden Termin - niemand über seine Wahl sprechen, weil man befürchtet, andere Eltern könnten sich spontan auch für diese Schulen entscheiden und damit die Konkurrenzsituation noch verstärken.
Denn niemand kann heute, einen Tag vor Beginn der Anmeldefrist, genau abschätzen, wie viele Schüler sich unter den veränderten Aufnahmebedingungen an welcher Schule anmelden. War bislang die Schulwegdauer ausschlaggebend, können die Schulen nun 60 Prozent der Plätze eigenständig besetzen. Dabei legen die meisten Oberschulen als Auswahlkriterium den Notendurchschnitt zugrunde. Zehn Prozent sind für Härtefälle, 30 Prozent für den Lostopf vorgesehen. Ob dieses Verfahren gerechter ist als das alte, ist umstritten. Viele Eltern kritisieren, dass die Notengebung zwischen den Schulen und auch von Lehrer zu Lehrer sehr unterschiedlich ist, weil es keine verbindlichen Kriterien für die Bewertung gibt. Wo der eine noch eine Eins gibt, würde der andere eine Arbeit mit einer Zwei oder gar Drei bewerten.
Mehr Kinder - mehr Konkurrenz
Aber nicht nur wegen der neuen Auswahlkriterien ist bei den Eltern der Sechstklässler die Unsicherheit groß. Im kommenden Schuljahr strömen auch mehr Kinder als in den vergangenen Jahren auf die Oberschulen, weil durch das Vorziehen des Einschulungsalters vor sechs Jahren der jetzige Jahrgang der Sechstklässler besonders stark ist. Jedoch nicht an jeder der begehrten Schulen wird eine zusätzliche Klasse aufgemacht, sodass der Andrang auf einige Schulen wohl noch größer werden wird als in den Jahren zuvor. Die Schulverwaltung rechnet damit, dass es an 40 Prozent der Schulen weniger Plätze als Bewerber geben wird. Zwar heißt es beim Senat, der Jahrgang der Sechstklässler sei nur um 16 Prozent höher als im Jahr 2010, vor allem weil viele Kinder schon im Jahr vorher vorzeitig eingeschult worden seien. Dennoch fühlt es sich für die Eltern anders an. Sie spüren einen Konkurrenzdruck wie nie zuvor.
Auch die Privatschulen, die zum Teil schon vor den staatlichen Schulen ihre Auswahl getroffen haben, verzeichnen großen Andrang. Bei den evangelischen Oberschulen kommen etwa drei Bewerber auf einen Schulplatz, nicht anders sieht es bei den katholischen Schulen aus, auch wenn das Erzbistum keine offiziellen Zahlen nennt. Unter Eltern kursieren aber Zahlen, dass sich zum Beispiel an der katholischen Schule Liebfrauen in Charlottenburg einige hundert Schüler um die 90 Schulplätze beworben haben.
Auch an der Poelchau-Schule liegt das Verhältnis zwischen Bewerbern und Schulplätzen in manchen Sportarten, wie Fußball, bei 1:3. Die künftigen Siebtklässler sind aber schon ausgewählt. Seit vergangenem Herbst gab es Sichtungstermine. Die künftigen Sport-Eliteschüler müssen nur noch ihr Zeugnis vorlegen - Realschul- oder Gymnasialempfehlung sind Voraussetzung - und die sportmedizinische Untersuchung bestehen.
Warten auf die Entscheidung
Auch Leon hat es geschafft, obwohl er nach dem Sichtungstraining gar nicht damit gerechnet hat. Er war so aufgeregt, dass ihm nicht jeder Schlag so gelang, wie er es sich gewünscht hatte. 20 Minuten wurden die Kandidaten nach dem Termin auf die Folter gespannt, 20 Minuten mussten sie warten, bis die Jury sie wieder in die Halle rief und verkündete, wer künftig die Poelchau-Schule besuchen kann. Da flossen auch Tränen. Wer es nicht geschafft hat, muss nun nach monatelanger Vorbereitung ganz von vorn beginnen.
Ein Verfahren, das Elfjährige herausfordert - aber "so läuft es eben im Leistungssport", sagt Leons Mutter, und sie ist zugleich froh, dass ihrem Sohn diese Niederlage erspart blieb. Allerdings bekommen die Poelchau-Kandidaten ihre Zu- oder Absage sofort und müssen nicht wochenlang warten, wie all die anderen Sechstklässler, unter ihnen auch Celine, die erst im April von den Schulämtern den Bescheid bekommen, an welcher Schule sie letztlich landen.