Serie: Große Pädagogen, Teil 1

Jean-Jacques Rousseau, der Urvater der antiautoritären Bewegung

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Kirsten Schiekiera

Eine lange und unbeschwerte Kindheit wird unserer Jugend historisch noch nicht lange zugestanden. Doch die Grundlagen für die moderne Kindererziehung legten große Denker schon vor Jahrhunderten. Ihre Ideen wirken bis heute nach und wurden ständig weiterentwickelt. Wir stellen die großen Pädagogen der vergangenen drei Jahrhunderte in einer Serie vor.

Jahrhunderte bevor Erziehungsratgeber die Bücherschränke von Familien erobern sollten, erschien im Jahr 1762 der Roman "Émile". Sein Verfasser: der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Kaum war das mehr als 1000 Seiten umfassende Werk veröffentlicht, löste es in Europa einen Skandal aus. In Paris wurde "Émile" sofort verboten, in Genf wurde der Roman öffentlich verbrannt. Doch alle Schmähungen halfen nichts: "Émile" wurde das meistgelesene Erziehungsbuch der Weltliteratur.

"Emile" ist ein Junge, der seine Kindheit auf dem Land verbringt und weitgehend frei von den Zwängen der damaligen Zeit aufwächst. Er entwickelt sich prächtig - nicht durch Belehrung oder Strafe, sondern durch Spielen, Toben und Faulenzen. Damit stellte Jean-Jacques Rousseau die Erziehungsvorstellungen seiner Zeit vollkommen auf den Kopf. Doch wer war dieser Mann? Er wurde 1712 in Genf geboren. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt. Rousseau wuchs bei seinem Vater auf und war ein kränkliches, empfindsames und hochbegabtes Kind. Bereits mit fünf Jahren konnte er lesen, wenig später studierte er Werke der Weltliteratur. Als er zehn Jahre alt war, floh sein Vater aus Angst vor einer Gefängnisstrafe aus der Schweiz. Rousseau verbrachte darauf mehrere Jahre als Pflegekind bei einem Pastor und einer Tante - und litt bei beiden unter ungerechter Bestrafung und körperlicher Misshandlung.

Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, besuchte er ein Priesterseminar und wurde Hauslehrer. Immer wieder reiste er nach Paris und machte mit Künstlern und Literaten Bekanntschaft. Er begann selbst zu publizieren und verfasste mehrere Abhandlungen und Romane. Geld war stets knapp, und sein Privatleben verlief für die damaligen Verhältnisse turbulent. Seine erste langjährige Geliebte war die 13 Jahre ältere Madame de Warens, die er zunächst "Maman" nannte. Später begann er dann ein Verhältnis mit der Wäscherin Thérèse. Im Jahr 1762 erschienen sein großes staatsphilosophisches Oeuvre "Der Gesellschaftsvertrag" und dann sein, wie er selbst meinte, wichtigstes Werk "Émile". Die Kritik an der Zivilisation war das Hauptthema des Buches. "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter den Menschen", so lautet der erste Satz von "Émile". Kinder werden als perfekte Geschöpfe dargestellt, unschuldig und makellos. Allein die Umwelt vermag sie zu verbiegen und ihre reinen Seelen zu beschädigen. Dieser pädagogische Ansatz war für die damalige Zeit geradezu radikal: Zum ersten Mal stand das Wohl des Kindes im Mittelpunkt.

Der Roman "Émile" hatte eine enorme Durchschlagkraft. Hunderte von pädagogischen Artikeln, die allesamt von Rousseau beeinflusst waren, erschienen daraufhin. Eltern versuchten ihre Kinder nach seinen Prinzipien zu erziehen, viele Generationen von Pädagogen wurden durch ihn beeinflusst. In tiefer Verehrung für Rousseau nannte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi seinen einzigen Sohn Hans-Jakob - die deutsche Übersetzung von Jean-Jacques.

Es gibt nicht wenige, die Rousseau auch heute noch als Urvater der antiautoritären Bewegung betrachten. Als historische Persönlichkeit hat Rousseau auch in Berlin seine Spuren hinterlassen. Eine Oberschule in Mitte trägt seinen Namen genau wie eine künstliche Insel im Tiergarten, auf der auch ein Denkmal des Philosophen und Schriftstellers steht.

Bedeutsamer allerdings ist sein Einfluss auf Pädagogen wie Pestalozzi, Diesterweg oder Maria Montessori, der noch bis heute nachwirkt. Auch Schriftsteller wie Goethe, Schiller und Herder ließen sich durch die Schilderungen von "Émiles" Jugend inspirieren. Rousseau war der erste, der Kinder als eigenständige Persönlichkeiten sah. Der ihnen zugestand, auf ihre Weise zu denken und zu empfinden. Die Erkenntnis, dass Kinder durch ihre Umwelt geprägt und geformt werden, erscheint einem heute als Binsenweisheit, tatsächlich aber war Rousseau der erste, der sie formulierte.

Das glanzvolle Lebenswerk Rousseaus, das bis heute nachwirkt, hat jedoch einen Makel. Die glückliche Kindheit, die sein Romanheld Émile erleben durfte, blieb den fünf Kindern, die Thérèse ihm gebar, verwehrt. Die fünf Jungen und Mädchen wurden gleich nach der Geburt als "Findelkinder" abgegeben, weil Rousseau mit seiner Schriftstellerei keine Familie ernähren konnte. Zwar war solch ein Verhalten in der damaligen Zeit alles andere als unüblich, dennoch dürfte eine Kindheit in einem Waisenhaus des 18. Jahrhunderts kaum Rousseaus Vorstellungen von freier Entfaltung entsprochen haben.