Verwinkelte Schulgebäude, Klassenräume in Pastelltönen, großzügige Schulgärten. Schüler und Lehrer, die ihren Namen tanzen - die Welt der Waldorfschulen wirkt auf Außenstehende auf den ersten Blick idyllisch, aber auch ein wenig bizarr. Die "schöpferische Freiheit des Menschen" steht im Zentrum der Waldorf-Pädagogik. In Kindergärten und Schulen wird viel Wert auf Kreativität und handwerkliches Geschick gelegt. Die Kinder lernen tischlern und nähen, sie malen mit Wasserfarben und basteln mit Naturmaterialien. Im sogenannten Epochen-Unterricht stehen jeweils drei oder vier Wochen lang Fächer wie "Rechnen", "Hausbau" oder "Goethes Faust" auf dem Lehrplan. Kein Kind bleibt sitzen, in Grund- und Mittelstufe werden keine Noten verteilt, stattdessen gibt es ausführliche Beurteilungen ihrer Entwicklung. Erst ab der elften Klasse dürfen sich Waldorf-Schüler über Zensuren freuen - oder auch ärgern.
Die Waldorf-Pädagogik geht zurück auf Rudolf Steiner (1861-1925), der im kroatischen Kraljevec, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, geboren wurde. Der Sohn eines Bahnbeamten entstammte einfachen Verhältnissen, fiel aber bereits im Grundschulalter auf, weil er sich, gelangweilt vom Unterricht, mithilfe von Lehrbüchern selbst Wissen aneignete. Erste pädagogische Erfahrungen sammelte er schon während seines naturwissenschaftlichen Studiums als Nachhilfe- und Hauslehrer. Später betreute er einen zehnjährigen Jungen mit einem sogenannten Wasserkopf. Nach zwei Jahren konnte der Knabe, der eigentlich als nicht schulfähig galt, aufs Gymnasium aufgenommen werden und wurde später Arzt. Steiner, fasziniert von der Entwicklung seines Schützlings, hatte seine Berufung gefunden. Er promovierte, wurde "Goethe-Forscher" in Weimar und heiratete eine Witwe, die bereits fünf Kinder hatte. Bei der Theosophischen Gesellschaft, einem Kreis von Menschen, die an Esoterik und fernöstlichen Lehren interessiert waren, fand Steiner um 1899 eine Art geistige Heimat und schnell auch Anhänger. "In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft", beschrieb der Schriftsteller Stefan Zweig den charismatischen Philosophen. Steiner verfasste Tausende von Vorträgen zu philosophischen und pädagogischen Themen und gründete schließlich die Anthroposophische Gesellschaft, die sich auf die von ihm entwickelte "Wissenschaft zur Erkenntnis der geistigen Welt und ihrer Erscheinungen" stützte. Im Jahr 1919 bat ihn der Besitzer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter zu leiten. Damit hatte Steiner endlich die Möglichkeit, seine Theorien in die Praxis umzusetzen - die erste Waldorfschule war geboren.
"Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht - sondern: Was ist im Menschen veranlagt, und was kann in ihm entwickelt werden?", so lautete einer der Kernsätze der steinerschen Pädagogik. Steiner forderte eine Erziehung, die sich an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. Weil der Mensch in Siebenjahreszyklen reife und sich etwa Gedächtniskraft und das Denkvermögen erst nach dem Zahnwechsel entfalteten, sei es beispielsweise schädlich, wenn Kinder zu früh schreiben und lesen lernen.
Steiner hinterließ ein umfangreiches Werk mit 42 Büchern, etwa 6000 Vorträgen, Mysterienspielen und zahlreichen künstlerischen und architektonischen Arbeiten. Im Gedächtnis bleibt er jedoch vor allem durch seine pädagogischen Theorien, an der sich bis heute die Geister scheiden. Die einen sehen in ihnen eine sinnvolle Alternative zum Wissenswettkampf und Pisa-Wahnsinn an staatlichen Schulen. Die anderen finden Steiners Pädagogik, die allein auf dem von ihm entwickelten Menschenbild basiert, weltfremd und bemängeln, dass seine Thesen wissenschaftlich nicht haltbar sind und zahlreiche okkulte sowie esoterische Aspekte enthalten. Gerne belächelt wird auch die von Steiner erfundene Eurythmie, die bis heute auf den Lehrplänen der Waldorfschulen steht und bei der in bunte Tücher gehüllte Gestalten Musik und Sprache tänzerisch zum Ausdruck bringen.
Der Beliebtheit der Waldorfschulen tun die Diskussionen keinen Abbruch. Insgesamt 4500 Schüler besuchen in Berlin und Potsdam Schulen, in denen nach Steiners Ideen unterrichtet wird. Die Nachfrage übertrifft das Angebot bei Weitem.