Lili hat die Lippen zusammengepresst. Ihre Augen fixieren die Pipette, die sie über ein mit Wasser gefülltes Reagenzglas hält. Vorsichtig drückt die Zwölfjährige mit Daumen und Zeigefinger die Pipette zusammen, in der eine farblose Flüssigkeit schwimmt.
Langsam löst sich ein Tropfen und fällt mit einem leisen "Plopp" in das Röhrchen. Geschafft. Ihre Klassenkameraden hatten wohl recht: Sie hat die ruhigste Hand von allen.
Lili und ihre 21 Mitschüler gehen in die sechste Klasse der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg. Auf dem Jugendforschungsschiff "Cormoran" in der Rummelsburger Bucht untersuchen sie unter anderem das Wasser aus der Spree. Die Flüssigkeit, die Lili in das Röhrchen gefüllt hat, verändert die Farbe. So können die Kinder sehen, wie hoch der Phosphatgehalt im Spreewasser ist. Bis dahin müssen sie allerdings fünf Minuten warten. Uwe Schneider überträgt einem Schüler deshalb die Aufgabe, die Uhr zu überwachen.
Feilen am pädagogischen Konzept
Schneider hatte die Idee zum Projekt "Jugendforschungsschiff ,Cormoran'". Seit Mitte des vergangenen Jahres arbeiten der 48-Jährige und der von ihm im April 2008 gegründete Verein "Das Schiff" nun an dessen Umsetzung. Sie suchen Kooperationspartner und Sponsoren, und sie feilen in Zusammenarbeit mit Fachlehrern der Naturwissenschaften am pädagogischen Konzept. Der Verein betreibt noch ein zweites Schiff, den "Wassermann". Mit ihm sollen die Schüler demnächst Ausflugs- und Erlebnisfahrten auf Berlins Flüssen und Seen unternehmen.
Das Ziel des Projekts verbirgt sich bereits im Namenszusatz des Vereins, "Labor für Bildungskonzepte": Schüler von der Grundschule bis zur Oberstufe sollen mit anschaulichen Versuchen für die Naturwissenschaften begeistert werden - und so soll auch der Fachunterricht in den Schulen unterstützt werden. Denn die Experimente auf der "Cormoran" sollen in den Unterricht integriert werden. "Wir wollen hier die ernsthafte Wissenschaft mit der Schule verbinden", sagt Schneider. Und das auf einem Schiff, draußen auf dem Wasser, in der Natur. Ein Schwerpunkt ist deshalb die Gewässerökologie. Dazu gehört zum Beispiel der Vergleich von destilliertem Wasser und Flusswasser.
Das hat die Gruppe aus Kreuzberg bereits hinter sich. Ergebnis: Das Spreewasser ist "ein bisschen dunkler und dreckiger", da sind sich alle einig. Die Jungen und Mädchen drängen sich um den kleinen Tisch, auf dem Christine Paarmann die Instrumente aufgebaut hat. Die ehemalige Biologie- und Chemielehrerin führt die Versuche durch, sie erklärt und ermuntert die Kinder zum Mitmachen. Die 65-Jährige ist überzeugt: "Was die Kinder hier untersuchen, nützt ihnen in jedem Fall etwas. Sie sehen direkt die Ergebnisse, sie kommen in Kontakt mit Naturwissenschaftlern, und sie sind dabei nicht so eingeengt wie in der Schule."
Christine Paarmann ist seit der Gründung im Verein "Das Schiff" aktiv und soll das Forschungsschiff mit ihrer Kompetenz unterstützen, wenn nach den Sommerferien, von September an, regelmäßig Schulklassen die "Cormoran" besuchen. Denn die sechste Klasse der Heinrich-Zille-Schule ist die erste Schulklasse, die das Schiff betreten hat.
Mit ihr machen Uwe Schneider und seine Mitstreiter heute einen Probedurchgang. Ganz fertig ist das Schiff noch nicht: Das Labor unter Deck, in dem die Versuche künftig durchgeführt werden sollen, muss noch gebaut werden. Die Firma "Die Laborfabrik" aus Bremen übernimmt das - umsonst. Zahlreiche Unternehmen haben bereits Ausrüstung für das Schiff beigesteuert.
Dennoch bleibt die Finanzierung des Projekts der kritische Punkt. Rund 88 000 Euro hat der Ausbau des Schiffs bislang gekostet. Die Ausgaben für den Liegeplatz und die Anschaffung der "Cormoran" hat der Verein aus Spenden und privaten Mitteln bestritten. Immerhin: Die Anschubfinanzierung für ein Jahr über 20 000 Euro hat der Landesverband Berlin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes übernommen. Die Nagelschneider-Stiftung aus München spendet Sonnenkollektoren, ein Windrad und Batterien, die Energie speichern. Die Ausrüstung bildet die Grundlage für den zweiten Schwerpunkt des Jugendforschungsschiffs: erneuerbare Energien. Auf der "Cormoran" sollen die Schüler zum Beispiel erfahren, wie Sonnenenergie in Strom umgewandelt wird.
Das interessiert die Kinder aus Kreuzberg heute aber nicht. Sie haben etwas ganz anderes im Blick: Die fünf Minuten sind fast um, gleich wird sich zeigen, wie viel Phosphat das Spreewasser enthält. "Zehn ... neun ... acht ...", zählen alle im Chor rückwärts. "Drei ... zwei ... eins ... fertig!" "Wer möchte das Ergebnis überprüfen?", fragt Christine Paarmann. Viele Finger gehen hoch. Die elfjährige Mia macht das Rennen. Sie vergleicht die jetzige Farbe des Wassers mit der Farbskala. Ergebnis: Die Spree hat Trinkwasserqualität - zumindest, was den Phosphatgehalt angeht. Trinken würde Büsra das Wasser aber nicht. Die Zwölfjährige ist bei den Versuchen ebenso begeistert dabei wie ihre Mitschüler: "Weil wir selbst was untersucht haben. So lernt man viel mehr." Warum? Büsra überlegt kurz. "Weil man das alles besser im Kopf behält, wenn man es selbst macht."
Ausflug mit Unterricht
So geht es auch Sohail. Der Zwölfjährige übt Seemannsknoten. Konzentriert schlingt der Junge mit den großen braunen Augen das rote Tau um das Schiffsgeländer. "So richtig?" Fragend blickt Sohail zu Lothar Brosinski hinüber. Der braun gebrannte Mann ist noch nicht ganz zufrieden: "Ja ... und jetzt zwei halbe Schläge ... ganz durchziehen ... so." Brosinski ist Schiffsbetriebsmeister und 40 Jahre lang zur See gefahren. Der 73 Jahre alte Rentner arbeitet ehrenamtlich auf dem Jugendforschungsschiff: "Mir ist zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen", sagt er. Hier kann er sein Wissen an Kinder weitergeben. Bei Sohail hat es funktioniert: Den Slipstek und den Webeleinenstek kann der Schüler schon.
Sohails Mutter freut sich, dass ihr Sohn außerschulische Lernorte wie das Jugendforschungsschiff besucht. Die Kombination aus Ausflug und außergewöhnlicher Umgebung hält Beate Lütke für ideal: "Da ist der Bezug zu den Wasseruntersuchungen sofort gegeben. Und durch die Umgebung verankern sich die Informationen auch besser im Kopf." Unterrichtsinhalte in der Praxis kennenzulernen sei zwar grundsätzlich enorm wichtig, findet die Lehrerin für Deutsch und Englisch. "Aber gerade bei den Naturwissenschaften erschließt sich den Schülern wenig aus dem Lehrbuch. Wenn sie aber etwas selbst untersuchen können, wird ihr Interesse geweckt, und sie schauen genauer hin."
Genau das wollen Uwe Schneider und seine Mitstreiter erreichen. Das soll ihr Ziel sein, wenn die "Cormoran" von September an mit Berliner Schülern in See sticht: vier Stunden lang lebendiger Unterricht auf der Spree, jede Menge Spaß beim Mitmachen und Lernen zwischen Oberbaumbrücke und Rummelsburger Bucht.