Interview

"Viele Eltern haben Angst, ihre Kinder loszulassen"

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Männlich, ledig, gebildet: Das sind Kennzeichen des typischen Nesthockers. So leben 46 Prozent der 24-jährigen Männer in Deutschland noch bei Mama und Papa, aber auch Töchter wohnen immer länger bei den Eltern. Warum das so ist, erklärt Diplom-Psychologin Sandy Genskow.

Berliner Morgenpost: Frau Genskow, woran liegt es, dass junge Leute heute lange zu Hause wohnen?

Sandy Genskow: Für viele Familien steht vor allem der finanzielle Gesichtspunkt im Vordergrund. Solange die Kinder in der Ausbildung sind, ist es einfach kostengünstiger, wenn sie zu Hause wohnen. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Traditionen immer mehr gelockert haben. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist liberaler, partnerschaftlicher geworden. Es lebt sich mit Eltern heute fast wie in einer WG mit Freunden. Damit entfällt die Sturm-und-Drang-Phase früherer Zeiten, und eine räumliche Trennung gehört auch nicht mehr selbstverständlich zum Ablöseprozess. Außerdem kommt dazu, dass Schule oder Ausbildung und die anschließende Jobsuche heute länger dauern. Bis dahin machen es sich viele Jugendliche gerne bequem, genießen das Rundumpaket im Hotel Mama und die emotionale Unterstützung. Kurz gesagt: Man kann in Ruhe an der Karriere arbeiten und braucht sich sonst um nichts zu kümmern.

Berliner Morgenpost: Gibt es verschiedene Typen von Nesthockern?

Sandy Genskow: Da sind einmal die Strebsamen, die in Ruhe an ihrer Karriere basteln wollen und sich nicht mit Alltagskram belasten wollen, sondern froh sind, wenn man ihnen das abnimmt. Dann gibt es die Anhänglichen, die sich nicht von zu Hause trennen können. Und dann noch die Ängstlichen, die ein wenig Furcht vor der Welt draußen haben, die Probleme in ihrer Beziehung oder gar keine Beziehung haben.

Berliner Morgenpost: Bedeutet das Nesthocken, dass die Familie in der heutigen Zeit wieder mehr geschätzt wird?

Sandy Genskow: Traditionelle Werte werden in einer hektischen und unsicheren Welt immer wichtiger. Und die Familie ist ein Ruhehafen in einer Zeit, die geprägt ist vom Kommen und Gehen. Man muss heute häufiger einen neuen Job suchen, möglicherweise auch in einen neuen Ort ziehen, die Kollegen wechseln häufiger. Da schätzt man den familiären Rahmen besonders. Die meisten Menschen mögen keine Veränderung, sondern sehnen sich nach Stabilität und Ritualen, da bietet die Familie einen sicheren Rahmen.

Berliner Morgenpost: Wann sollte man einen Nesthocker vor die Tür setzen?

Sandy Genskow: Wenn Eltern feststellen: Der 30-jährige Sohn ist ein Schmarotzer! Grundsätzlich sollte das Thema Ausziehen immer wieder thematisiert werden, spätestens, wenn die Kinder 21 sind. Viele Eltern haben Angst, ihre Kinder loszulassen, weil das die Beziehung verändert, man sich als Elternpaar neu orientieren muss. Eltern sollten sich vorbereiten und sich nicht auf ihren Nesthocker konzentrieren. Kinder können leicht zum Lebensinhalt werden, über Jahre hat man sich zurückgenommen und fällt nun in ein Loch. Insofern müssen sich nicht nur Kinder den neuen Aufgaben stellen.

( Interview: Maggie Riepl )