Nur 35 Zentimeter groß und ganze 950 Gramm schwer war der kleine Angus, als ihn die Ärzte des Tempelhofer Sankt-Joseph-Krankenhauses am 16. Januar dieses Jahres auf die Welt holten. Fast vier Monate zu früh – weil er und seine Mutter Ute in Lebensgefahr schwebten nach einer Schwangerschaftsvergiftung in der 28. Woche. Angus ist ein hochsensibles Frühchen. 400 dieser extrem zu früh geborenen Babys kommen in Berlin jährlich auf die Welt. Und um die ist ein heftiger juristischer und medizinischer Streit zwischen den versorgenden Krankenhäusern und der Gesundheitsverwaltung entbrannt.
Ginge es nach der Behörde, dann sollten Babys wie Angus nur noch zentral in extra ausgewiesenen Perinatalzentren versorgt werden. Dazu gehören in Berlin zwei Kliniken: die Charité, mit den Standorten Virchow-Klinikum in Wedding und Mitte, sowie das Vivantes-Klinikum in Neukölln. Mindestens 50 extreme Frühchen sollten jährlich in solchen Spezialzentren versorgt werden, ganz nach der Devise „Übung macht den Meister“. Zudem sollte es dort für alle Fälle kinderchirurgische Abteilungen geben, weil viele dieser Mini-Babys lebenserhaltende Operationen benötigen. So wie auch Angus. So wie 61 der 465 unter 1500-Gramm-Babys, die 2007 in Berlin zu Welt kamen und nach Angaben von Hans-Jürgen Wirthl, Vizechef des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind“, kinderchirurgisch versorgt werden mussten.
Doch das Land scheiterte mit seinen Qualitätsvorgaben, die strenger sind als die bundesweit geltenden Richtlinien, am juristischen Widerstand von vier klagenden Berliner Kliniken: das Helios-Klinikum in Buch, das Sana-Krankenhaus in Lichtenberg, das Evangelische Waldkrankenhaus in Spandau sowie das Sankt-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof. Alle diese Kliniken versorgen ebenfalls kleine Neugeborene. Die Neuregelung hätte für sie das Aus in der Versorgung hochsensibler Frühchen bedeutet. Nach einem außergerichtlichen Vergleich zwischen dem Land und den vier klagenden Kliniken dürfen nun sechs Berlin Krankenhäuser Kinder, die mit einem Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm auf die Welt gekommen sind, betreuen.
Einer der Gewinner ist das Sankt-Joseph-Krankenhaus, in dem auch der kleine Angus versorgt wird. Der dortige Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Michael Abou-Dakn, ist froh, dass nicht nur die beiden landeseigenen Kliniken diese kleinsten Patienten behandeln dürfen. „Ich freue mich, dass der Senat uns und die anderen Perinatalzentren nicht einstampfen darf“, sagt er. 21 solcher winzigen unter 1500-Gramm-Babys betreue das Sankt-Joseph jährlich – weniger als die vom Land avisierte Obergrenze. Doch Beatrix Schmidt, Leiterin der Kinderklinik am Sankt-Joseph-Krankenhaus, sieht keinen Nachteil: „Entscheidender als die Zahl ist die Individualität der Betreuung“, sagt sie und verweist auf die guten Behandlungsergebnisse ihrer Klinik sowie einen Aufsatz von Neonatologen (Frühgeborenenmediziner) im „Deutschen Ärzteblatt“. „Quantität allein garantiert keine Qualität“, heißt es dort.
Mehr Behandlungen, mehr Erfolg?
Zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt Professor Michael Obladen, ehemaliger Chef der Klinik für Neonatologie an der Charité in der „Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie“. Dort wiederum heißt es: „Sterblichkeit und Hirnblutungsraten von 1500-Gramm-Babys unterscheiden sich je nach Klinik und nach Fallzahl erheblich.“ Fazit: Ein Perinatalzentrum solle mindestens 35 bis 50 winzige Babys im Jahr versorgen. Ein Transport nach der Geburt solle vermieden werden, ein spezialisiertes Team immer vor Ort sein. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) kommt in einer Studie zu ähnlichen Ergebnissen. „Insgesamt weisen die ausgewerteten Daten deutlich auf einen Zusammenhang zwischen den Behandlungszahlen und der Sterblichkeit von Frühgeborenen hin. Diese war in Spezialzentren mit größeren Behandlungszahlen geringer“, heißt es in der Studie.
Die Krankenkassen wiederum, so etwa AOK-Sprecherin Gabriele Rähse, sehen die Gefahr von Folgeerkrankungen durch mögliche Qualitätseinbußen bei der Versorgung der winzigen Babys. Frühchen würden in Krankenhäusern, die nicht genug Erfahrung hätten, unter Umständen nicht rechtzeitig und nicht adäquat versorgt. Bestätigt wird dies vom Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité, Professor Christoph Bührer: „Wenn Frühchen nicht die richtige Versorgung bekämen, drohten dramatische gesundheitliche Einschränkungen. Ein Kind kann Gehirnschäden davontragen und ist dann ein Leben lang behindert.“
In den beiden Perinatalzentren der Charité an den Standorten Mitte und Wedding würden jährlich 240 Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm versorgt. Auch die bekannten Berliner Sechslinge sind dort auf die Welt gekommen. Bührer verweist auf die große Erfahrung und die Kompetenz seines „geschulten Teams, das nachts um drei Uhr sofort funktioniert, genauso wie tagsüber um zehn Uhr“. Zudem unterstreicht der Uni-Professor die Exzellenz seines Hauses durch die hohe Zahl der Behandlungen. „Richtig gut kann jemand nur etwas machen, wenn er es häufig macht“, so Bührer.
„Es geht ganz stark ums Geld“
Der Charité-Mediziner vermutet vielmehr, dass die winzigen Babys für die kleineren Krankenhäuser ökonomisch überlebensnotwendig seien. Eine Kinderklinik sei ein Saisongeschäft. Im Sommer gebe es da nicht viel zu tun. Solche Frühchen, die lange in der Klinik blieben und viel Geld brächten, seien willkommene Finanzquellen. „Es geht ganz stark ums Geld“, so Bührer.
Hans-Jürgen Wirthl schätzt, dass die Kliniken 90.000 bis 115.000 Euro an solchen Frühgeburten verdienen. Das Geschäft mit den Mini-Babys sei lukrativ. Deshalb hätten offenbar viele Kliniken ein Interesse an deren Versorgung. Chefarzt Abou-Dakn weist solche Vorwürfe zurück: „Uns geht es gar nicht um die Versorgung der gewinnbringenden Kleinstkinder mit einem Gewicht von unter 1000 Gramm. Wir wollen die Kinder mit einem Geburtsgewicht ab etwa 1000 Gramm weiter versorgen.“
Die AOK rechnet vor: Bei Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von 900 Gramm und schweren Atemproblemen, die in einem Perinatalzentrum geboren werden, bewegen sich die Kosten für den Klinikaufenthalt um die 50000 Euro. Bei einem Geburtsgewicht von 500 Gramm und schweren Atemproblemen liegen die Kosten bei etwa 185000 Euro. Wirthl warnt: „Derzeit sterben bundesweit etwa 200 frühgeborene Kinder im Jahr, weil sie nicht in der richtigen Klinik versorgt wurden.“ Deshalb fordert er, dass ein Perinatalzentrum mindestens 36 extremer Frühgeborener im Jahr versorgen sollte, besser noch 50. Die Bundesrichtlinie verlangt derzeit aktuell nur zwölf Kinder jährlich.
Der kleine Angus ist im Übrigen inzwischen aus dem Tempelhofer Sankt-Joseph-Krankenhaus entlassen worden. 1660 Gramm schwer. Es geht ihm gut.