Strausberg. Das soll ein normaler Schultag sein? Wirkt wirklich nicht so. Noch sind keine Herbstferien, aber auf dem Gelände der „Jugendschule Strausberg“ herrscht eine ferienlagerähnliche Stimmung. Der 13-jährige Lewin schleppt Holzlatten über den Weg, irgendwo wird gehämmert, man hört das Lachen Jugendlicher. Immer mal tauchen Schüler auf und wieder ab im Dickicht des Geländes. Willkommen in der „Jugendschule Strausberg“.
Gelockt hatte ein Satz von Maria Montessori: dass besonders Jugendliche eine Schule brauchen, „die keine Schule ist“. Man hatte sie bei diesem Satz förmlich vor Augen, die pubertierenden Jungs, die innerhalb weniger Monate im wahrsten Sinne „groß und stark“ werden und die auf den kleinen Schulstühlen lungern, unwillig, womöglich manchmal unfähig, dem Unterricht zu folgen. Denn in der Pubertät, zeigt die Hirnforschung, baut sich im Kopf alles um. Oder wie es eine befreundete Lehrerin mal frustriert auf den Punkt brachte: „Die Jungs aus der neunten Klasse kann man ein Jahr auf den Acker schicken. Da kommt eh nix.“ Also raus an die frische Luft! Die Schule ist hier ein fast verwunschenes Freigelände, kein klassischer Schulbau weit und breit. Kann das eine Lösung sein?
Jetzt sitzt Lewin hoch auf dem Dach eines Bootes, das aufgedockt auf dem Trockenen steht, lässt die Beine über den Schiffsdachrand baumeln und grinst hinunter. „Was machst du gerade?“ – „Pause“, sagt der. Recht hat er, Pausen gehören dazu.
Die Jugendschule Strausberg wird von der „Freien Montessori Schule“ in Köpenick betrieben. Ihnen gehört seit 2010 das weiträumige Gelände – 2,66 Hektar mit Bäumen, Sträuchern, Wiesen und einem Tümpel. 26.660 Quadratmeter sind zu bewirtschaften. Das entspricht 200 Wohnungen von 133 Quadratmetern. Ganz schön zu tun für die rund 100 Schüler aus der siebten bis neunten Klasse, die in Gruppen zweimal die Woche hier von Köpenick nach Strausberg rauskommen. Von morgens bis nachmittags sind sie dann vor Ort, eingeteilt in Gruppen, räumen, pflanzen, werkeln, kochen, färben, sammeln.
Alles wirkt noch etwas wild und unzusammenhängend
Schulleiter Timo Nadolny (32) ist mittendrin, die Jeans ist genauso dreckig wie bei manchen Schülern, man sieht, er packt an. Es gibt wirklich noch eine Menge zu tun, alles wirkt noch etwas wild, wuchernd und unzusammenhängend. Dort ein Gewächshaus mit bunten Fenstern, da eine Jurte, drüben ein Lehmofen, dazwischen drei Gebäude, die vom Verfall bedroht sind – ursprünglich haben hier katholische Johannesschwestern gelebt, zu DDR-Zeiten war hier ein Ferien- und Altenheim, nach dem Mauerfall ging das Gelände an die Kirche zurück.
Der 14-jährige Leon und andere Schüler wollen die Geschichte dieses Ortes aufarbeiten, das ist ihr Projekt für die nächsten Wochen. Es wird viel zu finden sein, hat doch Schwester Paula 1937 den Kauf des Geländes für ihren Orden erst durch ein Darlehen möglich gemacht. Diese Schwester war ursprünglich Frieda Loebenstein, eine engagierte Musik-Pädagogin, die in Charlottenburg lebte und nach 1933 als konvertierte Jüdin im Orden untertauchte, bis sie 1939 nach Südamerika fliehen konnte.
Andere Schüler arbeiten an diesem Morgen in der Bootsbaugruppe, bei den Kräuterhexen, in der Apfelgruppe, im Küchenteam, bei den Färbern. Die Idee ist, den Jugendlichen so zu vermitteln, wie man selbstständig leben kann. Bald soll ein Neubau entstehen, wo die Jugendlichen längere Zeit wohnen können, mit Küche, Schlafräumen und Duschen. Die Schüler sollen sich hier ganz anders beweisen können als in der Schule, selbst Verantwortung tragen, sich versorgen – indem man erst sät und später erntet.
„Die Dinge haben hier eine ganz andere Intensität und Qualität“, meint Schulleiter Nadolny. Es sei eben eine Sache, theoretisch im Biologieunterricht etwas über Äpfel zu lernen. Und eine andere, zu erleben, wie viel man aus Äpfeln machen kann – Saft, Seife, Mus, Sirup, Tee. Oder ein prächtiges, großes Holzboot wieder instand zu setzen, das von einem Vater gespendet wurde. Das erfordert Tischlerfähigkeiten.
Aber Hand aufs Herz, Herr Schulleiter, was ist mit Schulstoff? An zwei Tagen raus aus der Schule, rauf aufs Gelände – wie kriegt man das Wissenspensum bewältigt? „Das kriegen wir trotzdem alles hin“, sagt Nadolny überzeugt. Und geht von den Kräuterhexen, die ordentlich ihre Kräuter zu Haufen gestapelt und biologisch definiert haben, zur Färbegruppe. Während mit Indigo, Krapp und Rotkohl Stoffe gefärbt werden, zeigt der 13-jährige Bruno ein Experiment. „Blaukraut ist ein Indikator“, erklärt er – durch Farbreaktionen kann man den Säure- oder Basengrad messen. Er tropft Zitronensäure in den Blaukrautsaft. Ein Himbeerrot entsteht. Wieder was gelernt – und es riecht gar nicht nach Chemie-Raum. Sondern nach Lagerfeuer.