Frankfurt (Oder). An einem Punkt verzichtete die Schwurgerichtsvorsitzende Claudia Cottäus in ihrer fast vierstündigen, außerordentlich detaillierten Urteilsbegründung auf genauere Beschreibungen. Es ist die Situation, als der 25-jährige Jan G. am 28. Februar vergangenen Jahres mit einem Kleinwagen mit rund 160 Stundenkilometern auf zwei Polizeibeamte zuraste und sie beim Aufprall regelrecht zerfetzte. Richterin Cottäus beschränkte sich auf die Feststellung, dass er die Beamten tötete. Dabei blickte sie quer durch den Saal zu einer Frau, die angespannt zuhörte, immer wieder mit den Tränen kämpfte; vor sich ein ostentativ in Richtung des Angeklagten gestelltes Foto eines lächelnden Mannes. Es zeigt einen der Polizisten, die von Jan G. überfahren wurden. Sie ist seine Witwe.
Minuten zuvor hatte Richterin Cottäus das Urteil verkündet: Eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen dreifachen Mordes. Als Mordmerkmale sah die Kammer niedere Beweggründe und im Fall der ermordeten Polizisten auch noch Heimtücke. Festgestellt wurde zudem die besondere Schwere der Schuld. Und es gibt im Urteil einen Vorbehalt, dass zu prüfen sei, ob Jan G. nach Verbüßung der mindestens 18 Jahre währenden Strafe – zu erwarten ist weitaus mehr – in Sicherungsverwahrung bleiben müsse. Es ist in dieser Kombination nach deutschem Recht die höchstmögliche Strafe überhaupt.
Jan G., der ansonsten die Urteilsbegründung immer wieder mal mit Zwischenrufen zu stören versuchte, klatschte oder die flache Hand auf die Tischplatte schlug, nahm das Strafmaß ruhig hin. Vielleicht hat ihn sein Verteidiger gut vorbereitet. Vielleicht wird er auch erst später, in der Zelle, begreifen, was jetzt auf ihn zukommt.
Erdrückende Beweise und ein Geständnis des Angeklagten
Die Beweislage für die Taten ist unerschütterlich. Es gibt Zeugen, Spuren, Videoaufnahmen und nicht zuletzt Jan G.s Geständnisse. Zu klären war vor allem das Motiv für das, was er am 28. Februar tat. Es begann am Morgen, als er zunächst zwei im Haus der Großmutter arbeitende Elektriker freundlich umgarnte und wenig später, quasi aus dem Nichts heraus, die 79-jährige Marianne G. bestialisch tötete. Richterin Cottäus sprach von einer „Gewaltorgie“. Sie erzählte genau, wie er die Großmutter – es war ihr Geburtstag – erst mit Honig übergoss und dann auf sie einprügelte. Ihr Gesicht wurde zertrümmert, sie hatte diverse Knochenbrüche am ganzen Körper. Am Ende tötete er sie mit einem Stich in den Hals. Ganz bewusst.
Es sei ihr „Lieblingsmesser“ gewesen, so der Angeklagte zu Beginn des Prozesses. Er habe der Großmutter nicht zumuten wollen, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden müsse. Am vergangenen Dienstag stellte er fest, dass die Großmutter seiner Schätzung nach ohnehin höchstens noch zwei Jahre zu leben gehabt hätte. Und dass es also nicht so schlimm sei, dass sie etwas früher habe sterben müssen. Richterin Cottäus hielt ihm bei der Urteilsbegründung vor, dass die Großmutter die Einzige gewesen sei, die immer zu ihm gehalten habe; die ihn in ihr Haus aufnahm, ihm immer wieder Geld gab; die in ihrem Portemonnaie ein Foto von ihm hatte. Jan G. quäkte dazwischen, dass er es nicht mehr ausgehalten habe. „Es war jeden Tag dieser gleiche Scheiß, jeden Tag diese Blicke, dieses scheiß Gelaber!“
Minuten nach der Ermordung der Großmutter sprach Jan G. mit einer Postbotin. Er sei nett gewesen, höflich, gab die Frau vor Gericht zu Protokoll. Kurz darauf floh er mit dem Kleinwagen der Großmutter. Als er merkte, dass er sein Handy und seine Brieftasche vergessen hatte, kehrte er zurück. Aber da stand schon ein Rettungswagen vor der Tür. Ein Nachbar hatte Schreie gehört und die Polizei alarmiert. „Er hatte jetzt Gewissheit, dass seine Tat entdeckt wurde“, sagte Richterin Cottäus. „Er wusste jetzt, dass er verfolgt wird. Er hatte einen unbedingten Willen zur Flucht.“
Jan G. kollidierte bei dieser Wahnsinnsfahrt mit mehreren Fahrzeugen, fuhr zeitweise auf der falschen Straßenseite. Er wurde inzwischen auch verfolgt, konnte den Streifenwagen aber immer wieder abschütteln. Am Rande des Dorfes Oegeln (Oder-Spree) kam es an der B168 gegen 12.45 Uhr zur Katastrophe. Zwei Polizisten hatten über Funk erfahren, dass er mit dem Kleinwagen kommen würde.
„Er zeigte ein beachtliches Leistungsverhalten“
Sie wollten gerade ein sogenanntes Stop-Stick-System (ein Seil mit Nägeln) auf die Straße legen, um den Flüchtigen aufzuhalten. Ein polnischer Lkw-Fahrer hatte die Situation zufällig mit einer Dashcam (einer auf dem Armaturenbrett befestigten Kamera) aufgenommen: Die Polizisten standen mindestens einen Meter vom Straßenrand entfernt. Jan G. riss das Steuer herum und hielt voll auf die Beamten zu. „Er wollte sich auf keinen Fall festnehmen lassen, komme, was wolle“, sagte die Schwurgerichtsvorsitzende. „Er stellte die Flucht über das Leben der beiden betroffenen Menschen.“
Als psychiatrischen Gutachter hatte die Kammer mit Hans-Ludwig Kröber einen der renommiertesten Experten beauftragt. Er stellte fest, dass G. voll schuldfähig sei. Eine Beeinträchtigung seiner Einsichtsfähigkeit könne beim Mord an der Großmutter zwar nicht zwingend ausgeschlossen werden, weil er Ecstasy genommen habe und übernächtig gewesen sei. Aber er habe gewusst, was er tat. Die Kammer habe sich Kröbers Einschätzung angeschlossen, sagte Richterin Cottäus. „Dem Angeklagten war das Ausmaß seiner Handlungen bewusst. Es gab keine psychopathologischen Ausfälle. Und er war in seiner Wahrnehmungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, im Gegenteil, er zeigte ein beachtliches Leistungsverhalten.“ Kröber bescheinigte dem Angeklagten eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung. Eine Schizophrenie, wie sie zuvor von anderen Ärzten diagnostiziert wurde, hielt er für ausgeschlossen. Diese Fehleinschätzung ist bitter, weil vermutlich einiges hätte verhindert werden können. Schon im November 2016 gab es eine Verhandlung gegen Jan G., unter anderem wegen Körperverletzung und räuberischen Diebstahls. Das Gericht hielt ihn wegen der vermeintlichen Schizophrenie für schuldunfähig und setzte die Unterbringung im Maßregelvollzug auf Bewährung aus.
Ein Nebenklagevertreter im aktuellen Prozess will das nicht auf sich beruhen lassen. Er hat eine Strafanzeige angekündigt. Der Fall Jan G. ist noch lange nicht beendet.