Nichts – das ist alles, was man hier sieht. Stefan Höhne steht mit seinem Geländewagen an einem unbeschrankten Bahnübergang bei Zehdenick eine Autostunde nördlich von Berlin. Rechts und links führen Gleise ins Nirgendwo, vor ihm liegt eine Siedlung, deren Straßen alle so heißen: „Dorfstraße“. Höhne bittet das Navigationsgerät seines Geländewagens um Rat. Erfolglos. Dann fällt dem Arzt wieder ein, wo sein nächster Patient wohnt, obwohl es drei Monate her ist, dass er hier war. „Ein gutes Gedächtnis ist für einen Hausarzt eben unverzichtbar.“ Er lacht und parkt das glänzend schwarze Auto ein paar Ecken weiter in der allerletzten „Dorfstraße“ im Matsch.
Hinter Bäumen glitzert Wasser. Ein künstlicher See, erklärt Krankenschwester Carola Hunziger vom Beifahrersitz den romantischen Anblick. Die Ziegelindustrie hat Narben, Löcher und Industrieruinen rund um die Kleinstadt hinterlassen. Und Biografien wie die des Patienten M., der sein Leben lang gearbeitet hat, um sich sein Häuschen zu bauen, in dem er nun sitzt und wartet.
Stefan Höhne (37) ist seit einem Jahr niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin. Zweimal die Woche ist er unterwegs zu Hausbesuchen im weitläufigen Landkreis. Herr M. ist heute der erste Patient. Im Haus werden die Schuhe ausgezogen – Auslegeware, Sofas, Häkeldeckchen, alles blitzt, als sei die Hausfrau eben noch mit Feudel und Staubsauger unterwegs gewesen. Aber das täuscht. Ihr Bild steht in einem schwarzen Rahmen auf dem Couchtisch. „Frau M. war ebenfalls unsere Patientin“, sagt Schwester Carola und stellt vorsichtig ihren Schwesternkoffer neben das Foto. Auf dem Couchtisch liegen das Fernsehprogramm und die Essensliste des Bringdienstes. Sonst nichts.
„Wie geht es Ihnen“, will der Arzt wissen. „Eigentlich gut – wenn man das Schlechte weglässt“, entgegnet der alte Herr. In dem launig-ironischen Arbeiterton, der die Region bis heute prägt: Sich nur nichts anmerken lassen, wir werden schon durchkommen. Er ist 74 Jahre alt, Diabetes hat seine Beine anschwellen lassen. Der Arzt misst Blutdruck und Zuckerwerte, der Patient schweigt. Nur sein hoher Puls zeigt, wie wichtig ihm der Arztbesuch ist. Die Schwester reicht Messapparate, Nadel, Tupfer, und eine Quittung über zehn Euro Praxisgebühr. Die muss hier bezahlt werden, weil Herr M. es nicht mehr bis in die Praxis schafft. Der Arzt fragt ihn am Schluss noch vorsichtig, wie oft er sein Haus noch verlässt. Knappe Antwort: „Selten.“
Die zehn Minuten Arztbesuch stehen symbolisch für das Einerseits und Andererseits der Landmedizin. Einerseits gibt es den Anspruch auf medizinische Versorgung, egal, wo man wohnt. Andererseits ist da eine Gesundheitspolitik, die Patienten zu Pauschalen herunterrechnet und nicht auf Regionen wie den Nordosten Brandenburgs passt. „Bei uns werden die Alten immer älter und kränker, die Jungen ziehen weg“, sagt Schwester Carola. Sie ist 52 Jahre alt, seit 1989 in der Praxis, die Höhne vor einem Jahr übernahm. Beide wollen den Patienten mehr geben als nur Spritzen und Rezepte. Andererseits sind es einfach zu viele. Nur an wenigen anderen Orten in Deutschland ist der Ärztemangel so groß wie hier. Regelmäßige Hausbesuche, sagt Höhne, würden nicht mehr gesondert honoriert. „Es ist meine Entscheidung, wie viele ich mache.“
Deutschlandweit ist ein Hausarzt für 1569 Einwohner zuständig, in Berlin sogar nur für 1399. In Brandenburg sind es dagegen gut 1700 – statistisch gesehen. Allein in Höhnes Kartei stehen jedoch 12.500 Namen. Pro Quartal versorgt er bis zu 1500 Patienten, gemeinsam mit zwei Krankenschwestern und eine Arzthelferin. Bis vor einem Jahr waren sie mit derselben Patientenzahl zu dritt. Stefan Höhne hat die Praxis von einem älteren Arztehepaar übernommen. Eineinhalb Jahre haben die beiden mit ihm als Assistenzarzt gearbeitet, bis er seinen Abschluss in Allgemeinmedizin hatte. „Sie sind deshalb zwei Jahre später als geplant in Rente gegangen“, sagt Schwester Carola. Alle waren froh, dass die Praxis nicht schließen musste.
Fast ein Viertel der Brandenburgischen Ärzte ist älter als 60 Jahre. Je weiter draußen, desto schwieriger wird die Suche nach Nachfolgern. Momentan fehlen in Brandenburg 63 Haus- und fünf Fachärzte, so die Kassenärztliche Vereinigung (KV) des Landes. In manchen Gebieten übernehmen Ärzte deshalb Zweitpraxen für einige Tage pro Woche. Und es gibt verzweifelte Hilferufe wie aus Lychen in der Uckermark: Von fünf Hausärzten haben in dem 3500-Seelen-Ort drei ihre Praxis aufgegeben, sagt Bürgermeister Sven Klemckow. „Im kommenden Jahr geht der nächste in Rente.“ Viel versprechen kann er einem neuen Arzt nicht. Das Honorar sei so, als gebe es noch fünf Kollegen, sagt der Bürgermeister resigniert. „Nur die Arbeit ist mehr“. Lychen liegt zwar idyllisch zwischen Seen und Hügeln, doch viel Zeit für Naturschönheit dürfte einem Landarzt hier nicht bleiben.
Die romantische Idee, Landarzt zu werden, ist Stefan Höhne als Student in einem Urlaub in Schottland gekommen. „Ich stand an einem Hof inmitten von grünen Weiden, am Tor hing ein Schild: ‚Arzt’. Ich dachte, so etwas will ich auch machen“. Es hat einige Umwege gekostet, bis es so weit war. Drei Jahre an der Charité, die Überlegung, in die Forschung zu gehen, Zweifel ob des Lebens auf dem Land. Nun wohnt er in Wandlitz auf halber Strecke nach Berlin. Dort ist er aufgewachsen – in Reinickendorf. 140.000 Euro hat Höhne in die Praxisübernahme investiert. Zwar können Vertragsärzte in Brandenburg einen Zuschuss bei der KV beantragen – bis zu 50.000 Euro. Allerdings nur in unterversorgten Regionen, zu denen Zehdenick nicht zählt, statistisch gesehen.
Höhnes Praxis liegt in einem grün verputzten Haus an der zentralen Einkaufsstraße, Stuck und Gauben erzählen von Zehdenicks Zeit als stolzes Bürgerstädtchen. Gegenüber liegen der Traditionsschlachter, die Traditionskneipe und eine Apotheke. Im Wartezimmer sind die Patienten per „Du“, ausgenommen der „Herr Doktor“, „Schwester Carola“ und „Frau Tochtenhagen“. Anfangs, sagt Schwester Carola, habe sie Höhne alle Familienverhältnisse erklärt. So lasse sich zum Beispiel eine Veranlagung zu Krankheiten wie Diabetes erkennen. Höhne sagt: „Das ist Familienmedizin im besten Sinne.“
Verschiebebahnhof der Kranken
Alte Zöpfe hat der junge Arzt trotzdem abgeschnitten. Als Erstes strichen sie alle zusammen die alten Räume, die Diagnosezimmer in leuchtendem Blau, den Empfang in Orange. Dann kam neue Technik. „Wir bieten Langzeit-EKG, Sonografie und Ergometrie, bestimmen viele Laborwerte selbst“, sagt Höhne. Das erspart den Patienten Wartezeiten beim Facharzt, die Praxis hat zusätzliche Einnahmen.
Die Schwestern machen auch Hausbesuche. „Und wir haben ein papierloses Büro“, sagt Schwester Carola und deutet stolz auf ihren Computer. Die alten Karteikästen stehen im Keller. Höhne empfängt die Patienten auch abends. „Viele pendeln zum Arbeiten bis nach Berlin und haben wenig Zeit.“ Sogar sonnabends hätten sie eine Sprechstunde angeboten, sagt der Arzt. „Aber das kam nicht so gut an.“ Sonnabends ist man auf dem Land Familienmensch, Eigenheimbauer oder Fußballfreund – aber offenbar nicht krank.
Der größere Teil seiner Patienten, sagt Stefan Höhne, leide an altersbedingten Krankheiten. Wie die Dame im Rollstuhl, die er nach dem Witwer besucht. Die 82-Jährige lebt mit ihrem Sohn in einer Wohnung, die sie nicht mehr verlassen kann. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Auch hier fragt Höhne neben medizinischen Dingen nach der allgemeinen Situation. Schläft die Mutter gut? Isst sie gut? Der Sohn lacht. Die Dame lächelt verlegen. „Na ja, zwei bis drei Stück Kuchen am Nachmittag…“ – „Die wollen wir Ihnen nicht verbieten“, sagt der Arzt und erklärt dem Sohn das Messgerät für die Zuckerwerte.
Ein paar Ortschaften weiter liegt eine alte Dame in einem Krankenhausbett – aber immerhin, es steht in ihrem Zuhause. Im Flur sind große und kleine Schuhe aufgereiht, im Zimmer nebenan spielt das Urenkelchen mit dem Opa, während die „Oma“ – Tochter der Patientin –, mit zur Visite ins eigens eingerichtete Krankenzimmer kommt. Die Familie hat einen Flachbildschirm an die Wand gehängt. „Und Blumen, die liebt sie so“, sagt die Tochter. Höhne schaut sich gerührt um, begutachtet dann die Patientin. „Wenn Sie Blumen lieben, müssen Sie wieder auf die Beine kommen. Bald ist Frühling“, ruft er der alten Dame ins Ohr und gibt ihr auf, „mehr Sport“ zu machen. Er habe ihr vor einigen Wochen Antidepressiva verschrieben, sagt er. Als der Arzt den Raum verlässt, ruft er noch mal: „Sie wollen doch die Blumen im Frühling sehen!“ Und die alte Frau erhebt die Stimme: „Ja!“ Im Auto, auf dem Weg zum letzten Patienten für diesen Tag, ist die Stimmung gelöst.
Der Lungenpatient sitzt schwer atmend, mit dunkelrotem Gesicht, auf seinem Sofa in einem kleinen, grauen Haus in einem Dorf. Den Vorgarten bewacht ein kniehoher Gartenzwerg mit Gewehr im Arm. Im Haus liegen dünne Schläuche auf dem Boden: Sauerstoff, ohne den der Patient nicht überleben würde. Als Arzt und Schwester den Raum betreten, schiebt der Mann schnell einen vollen Aschenbecher unter den Sofatisch.
Der Arzt sieht dezent darüber hinweg und hilft dem keuchenden Mann beim Ausziehen des Hemdes. Er horcht ihn ab, begutachtet die geschwollenen Beine, einen Abszess am Rücken. „Sie sollten ins Krankenhaus, es ist Wasser in der Lunge.“ Der Patient schüttelt den Kopf. „Zu lange sollten Sie nicht warten“, insistiert Höhne, aber der Patient beharrt: „Erst nach meinem Geburtstag.“ Höhne nickt. Dann hilft er dem Mann wieder ins Hemd. Der wiederum hält seine offenen Ärmel kommentarlos der Schwester hin. Eine vielsagende Geste. Medizinische Versorgung als Rundum-Service? Carola Hunziger knöpft die Ärmel – ebenfalls kommentarlos – zu und sagt im Hinausgehen spitz: „Aber das Kippchen schmeckt noch.“
Sie hätten lange versucht, den Mann zu bewegen, das Rauchen aufzugeben, sagt sie später. Eigentlich, meint Höhne, gehöre er ins Krankenhaus. „Aber jeder hat das Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidungen.“ Und er könne verstehen, dass er seinen Geburtstag zu Hause erleben wolle, „in vertrauter Umgebung“.
Das nächste Krankenhaus für Lungenkranke liegt 60 Kilometer entfernt, es ist die Evangelische Lungenklinik in Berlin-Buch. Höhne zählt auf, wohin seine schwerkranken Patienten reisen müssen: Nervenkranke und Schmerzpatienten nach Neuruppin (50 Kilometer), zur Geburt geht es nach Templin (20 Kilometer), wer Krebs hat, muss bis Neuruppin oder nach Berlin-Buch. Herzkranke fahren 50 Kilometer ins Herzzentrum nach Bernau. Es klingt wie ein Verschiebebahnhof der Kranken. Dabei hatte auch Zehdenick einst ein Krankenhaus. In dem Gebäude arbeitet heute die kommunale Verwaltung.
Busenwunder statt Babyboom
Das Kreiskrankenhaus in Prenzlau hat die Einsparungen nach der Wende überlebt. 1989 gab es im Land Brandenburg gut 25?000 Krankenhausbetten, heute noch knapp 15?000. Prenzlau hat rund 20?000 Einwohner, die Stadt liegt im Nordosten der Uckermark. Das Krankenhaus, 1927 eingeweiht, soll die medizinische Grundversorgung von rund 40?000 Menschen im Umkreis sichern – was nicht einfach ist in Regionen, wo die Bevölkerungsdichte niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch ist.
In der neuen Krankenhaus-Cafeteria sitzen zwei Damen und wägen Für und Wider ab. Einerseits, sagt die jüngere, sei das Café sehr gemütlich. Früher hätten alle im Flur herumsitzen müssen. „Chaotisch!“ Sie hat einen Verwandten zur Chemotherapie begleitet. Die ältere Dame ist wegen einer Handverletzung da. Sie widerspricht: Das Café sei zu teuer. „Die meisten hier sind arbeitslos oder Rentner.“ Ja, aber das Krankenhaus an sich sei modern und gut, wendet die erste Frau ein. „Nein“, beharrt die alte Dame. Es gebe zu wenig Personal. „Wehe, Sie liegen im Bett und brauchen Hilfe.“
Es ist leise im Krankenhaus. Kein Dauer-Sirenenheulen wie in Berlin, keine Warteschlangen, keine Hektik. Die Damen deuten aus dem Café auf die leeren Flure. Orangefarbene Kachelwände sollten dem Krankenhaus einst etwas Solides geben, heute wirken sie altmodisch, ebenso wie die ausgetretenen Treppenstufen und die Handläufe aus Keramik. All das stammt aus der Zeit, als es noch keine Gehwagen und Fahrstühle gab, keine Normen für Krankenhäuser. Für die neuen Bettenzimmer mussten zwei Anbauten her, weil die alten Gebäude nicht umgebaut werden durften. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Der gilt allerdings nur für das Gebäude. Ansonsten hat sich eigentlich alles geändert.
Immer weniger Menschen würden stationär aufgenommen, sagt Christiane Reinefeldt, Verwaltungsleiterin des Hauses. „Vieles kann heute ambulant behandelt werden.“ Seit dem 1. Januar ist die Geburtenstation geschlossen, weil immer weniger Kinder geboren werden. Bis zu 1000 waren es zu DDR-Zeiten, 2010 kamen nur noch 223 Babys zur Welt. Eine Million Euro Minus habe das Krankenhaus mit der Station gemacht. „Wir haben sogar noch den Kreißsaal hübsch hergerichtet lassen“, sagt Christiane Reinefeldt, „aber vergeblich“. Schwerpunkt sind heute altersbedingte Krankheiten.
Spricht man mit Politikern und Planern über Landmedizin, fällt häufig ein Begriff: „Daseinsfürsorge“. Der zweithäufigste lautet „Demografie“. Die Einwohnerzahl sinkt, die Jungen ziehen der Arbeit hinterher. „Unsere Patienten werden immer älter und haben immer schwerere Krankheiten“, sagt Matthias Lauterbach, Geschäftsführer der kommunalen Krankenhausgesellschaft GLG, zu der auch das Krankenhaus in Prenzlau gehört. Die traurige Schlussfolgerung aus den Prognosen wird jedoch dank des Gesundheitssystems zu einer Art Standortvorteil: Je kränker die Patienten, desto höher die Zahlungen der Kassen. Was hoffnungsvoll, aber auch widersinnig klingt.
Heute werden in Prenzlau Herzinfarkte und Schlaganfälle behandelt, Brüche nach Stürzen, die Folgen von Alkoholmissbrauch. Wenn man so will: Die Beschwerden einer Bevölkerung, die älter wird, sich zu wenig bewegt, zu wenig Arbeit hat und zu viel trinkt. Auch wenn sie das im Krankenhaus so nicht sagen. Die Mediziner sprechen lieber davon, was sie anbieten. Die OP-Säle sind auf dem neuesten technischen Stand. Viele Ärzte sind mehrfach qualifiziert, sagt Uwe Knitter (52), Chefarzt der Klinik für Innere Medizin. Er als Internist kann zusätzlich Magen-Darm-Erkrankungen kurieren, ist außerdem Palliativmediziner. Sein Oberarzt ist auch Kardiologe, ein weiterer Kollege Diabetologe. Der Chefarzt der Chirurgie ist Experte für Operationen der inneren Organe und Proktologie. Neuerdings gibt es eine moderne „Stroke Unit“, mit deren Hilfe Blutgerinnsel nach einem Schlaganfall sofort lokalisiert und aufgelöst werden können. Die Ärzte vor Ort können sich per Telemedizin mit anderen Spezialisten austauschen.
Vielfältigkeit und Telemedizin sind unerlässlich für weitläufige Regionen wie die Uckermark. Rund 100 Kilometer liegen zwischen Ost und West, Nord und Süd des Kreises. Berlin ist 90 Kilometer entfernt. Die Ärzte hoffen auf einen verbesserten Hubschraubereinsatz für Schwerkranke. Und sie hoffen auf neue Kollegen.
„Im Zweifelsfall arbeiten Ärzte eben lieber in Berlin als hier“, sagt Chefarzt Knitter und bestätigt damit eine deutschlandweite Umfrage. Nur fünf Prozent der Ärzte können sich vorstellen, eine Praxis auf dem Land zu eröffnen. Das ergab gerade eine Umfrage des Forschungsinstituts TNS Infratest. In den meisten Bundesländern gibt es mittlerweile Unterstützung für junge Mediziner, um aufs Land zu gehen. So fördert die GLG seit 2006 rund 30 Medizinstudenten mit einem Stipendium. Bedingung: sie müssen aus der Region stammen und sich verpflichten, nach dem Studium bei der GLG anzufangen. Der Landkreis Kreis Elbe-Elster will ab diesem Jahr bis zu fünf Medizinstudenten mit 500 Euro monatlich unterstützen, wenn sie danach ihre Hausarztpraxis im Kreis eröffnen. Das Land Sachsen gab 2009 gleich drei Millionen Euro für ähnliche Stipendien.?
Prenzlau schaut bei der Suche auch über die Grenze nach Polen. „Schon jetzt haben wir sechs Kollegen, die aus Stettin pendeln, es sind nur 30 Autominuten“, sagt Knitter. Die Krankenhäuser in Prenzlau und Eberswalde sollen Lehrkrankenhäuser der Universität Stettin werden. So können Kontakte früh geknüpft werden. In Polen sind wiederum deutsche Patienten für Schönheitsoperationen und in der Fortpflanzungsmedizin längst die Regel.
Umgekehrt ist es noch nicht ganz so weit. Zwar gibt es bereits jetzt vermehrt polnische Patienten in Prenzlau. Doch diese sind vor allem Frauen, die zur Abtreibung kommen. 600 Schwangerschaftsabbrüche sind in Prenzlau im vergangenen Jahr vorgenommen worden, rund 500 der Frauen waren Polinnen. Ein Grund dafür könnte die polnischsprachige Hotline sein, die Janusz Rudzinski, Facharzt Frauenheilkunde und Geburtshilfe, betreibt. 30 bis 50 Anrufe bekomme er täglich, sagt er „im katholischen Polen sind Abtreibungen verboten und das Thema ein Tabu“. Seine polnischen Patientinnen reisen auch aus England an, Irland, Italien, Spanien, sagt er. „Viele sind Akademikerinnen, Geschäftsfrauen, Anwältinnen oder Schauspielerinnen.“ Sie müssen den Eingriff selbst zahlen – rund 400 Euro.
Janusz Rudzinski lebt seit 30 Jahren in Deutschland, hat in Bochum, Solingen und in Schwedt gearbeitet. Er benennt die Dinge, wie sie sind. Jetzt, da Geburten und Patientenzahlen zurückgingen, müsse man andere Alternativen erproben. Bauchplastiken und Brustvergrößerungen zum Beispiel. Bis zu 150 Operationen könnte er durchführen, rechnet er vor. „Das ist heute nicht mehr kompliziert“. Rudzinski ist 68 Jahre alt. Zwei Jahre, will er noch weitermachen.
Busenwunder statt Babyboom – das Wort Daseinsfürsorge bekommt damit anderen Klang. Wer sorgt für wen? „Die Kassen“, sagt Chefarzt Knitter, „bezahlen uns pro Patient wie in der Großstadt, nur dass dort viel mehr Patienten behandelt werden können.“ Christiane Reinefeldt fügt an: Die Schönheitsoperationen seien nur ein kleiner Teil des Angebots. Und Frauenheilkunde werde ja nach wie vor angeboten – „auf hohem Niveau“.
Am Krankenhaustor steht ein Mann mit einem Schäferhund und deutet auf einen der Frauenärzte: „Respekt! Ihnen und Ihrem Vater!“ Der Arzt lacht. Carsten Gutzschebauch (41) stammt aus Prenzlau, ist hier geboren. Auf der Station, die es jetzt nicht mehr gibt. „Sein Vater hat meine Tochter entbunden“, erklärt der Mann seine Begeisterung. „Vor 35 Jahren.“ Gutzschebauch sagt: „Mein Vater war früher Oberarzt der Gynäkologie.“ Der Sohn ist nach Jahren in Berlin und Wien in die Heimat zurückgekehrt. Er sei mit der Entwicklung einverstanden, die sein Krankenhaus nimmt, sagt er. Und fügt nachdenklich an: „Auch wenn die Vorstellung nicht schön ist, nie wieder ein Neugeborenes schreien zu hören.“