Kriegsverbrechen

Massaker in Treuenbrietzen – das Tabu ist gebrochen

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Michael Mielke

Foto: Michael Mielke

Im April 1945 töteten Soldaten der Roten Armee im brandenburgischen Treuenbrietzen 1000 Zivilisten. Zu DDR-Zeiten wurde das Massaker tot geschwiegen, Kriegsverbrechen des sowjetischen Bruderlandes existierten nicht. Nach mehr als 60 Jahren nimmt sich nun die Staatsanwaltschaft den Fall vor. Doch die Spurensuche ist schwierig.

Günter Eiserbeck hat noch jedes Detail der Szene in Erinnerung: Sein Großvater wird von einem Uniformierten gefragt: "Du Deutscher?" Als der alte Mann bejaht, wird er weggerissen, auf die Knie gezwungen, der Uniformierte drückt ihm den Lauf einer Pistole in den Nacken und erschießt ihn. Geschehen ist das am 23. April 1945 am Ortsausgang der brandenburgischen Kleinstadt Treuenbrietzen. Eiserbeck war damals sieben Jahre alt. Er weiß noch, dass er den leblosen Großvater liegen sah, das Gesicht auf dem nassen Waldboden, und dass er jämmerlich geweint und nichts begriffen hatte.

Etwa 1000 Zivilisten sollen an diesem 23. April 1945 in Treuenbrietzen getötet worden sein. In der Kleinstadt wurde jahrzehntelang über dieses Massaker geschwiegen. Das änderte sich erst 1989 nach der politischen Wende. Wobei auch heute noch viele - vor allem - ältere Bürger abwehrend die Hände heben, wenn sie auf diese Zeit angesprochen werden. Vor zwei Jahren stellte das Berliner "Forum zur Aufklärung und Erneuerung", das sich vorwiegend mit Folgen der DDR-Diktatur beschäftigt, wegen vielfachen Mordes eine Strafanzeige.

Im Zuge dieses Verfahrens hat vor wenigen Tagen die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Auskunftsersuchen an die russische Generalstaatsanwaltschaft gestellt. Spätestens jetzt ist die Zeit des Schweigens vorbei in Treuenbrietzen. Und Wolfgang Ucksche, Chef des örtlichen Heimatvereins und Leiter des Stadtmuseums, steht plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Waren seine Recherchen doch Ausgangspunkt für das Strafverfahren.

Die Sieger als gute Menschen gefeiert

Der stämmige Mann war noch nicht geboren, als in Treuenbrietzen über Nacht fast jede Familie einen Toten zu beklagen hatte. Er ist Jahrgang 1956, war aber schon als Jugendlicher an der Geschichte seiner Heimatstadt interessiert. "In meiner Schulzeit wurde uns immer erzählt, dass die russischen Soldaten 1945 die absolut Guten gewesen seien. Sie hätten uns Brot gebracht und in der Stadt wieder Ordnung geschaffen. Das habe ich schon sehr früh nicht so richtig glauben können." Denn es habe ja auch andere Berichte gegeben, "hinter vorgehaltener Hand erzählt, oft nur in Andeutungen".

Das weckte Ucksches Neugier. Er hat mit Hilfe von Ortschronisten und Zeitzeugen Dokumente, Episoden und Überlieferungen Stück für Stück zusammengetragen. Wie ein Puzzle, das nun ein schlüssiges Bild ergibt, stellenweise aber immer noch verschwommen ist. Es zeigt eine Kleinstadt, die im Frühjahr 1945 etwa 7000 Einwohner hatte (heute sind es rund 8000); und die den Krieg erst seit dem 19. April 1945 mit voller Wucht zu spüren bekam. Es begann mit schweren Luftangriffen. Am 21. April besetzten dann Streitkräfte der Roten Armee Treuenbrietzen. Zwei Tage später konnte die Wehrmacht das Gebiet zurückerobern und bis gegen 14 Uhr halten. Anschließend wurde sie erneut von der Roten Armee vertrieben. Russische Offiziere befahlen den Bewohnern, die Stadt unverzüglich zu verlassen.

Frauen und Mädchen vergewaltigt

Bei dieser Flucht kam es zu den Massenerschießungen von Zivilisten. Betroffen waren vor allem ältere Männer. Aber auch Frauen und Mädchen wurden erschossen und im Wald verscharrt. Wolfgang Ucksche hat dazu ein Pamphlet aus einer DDR-Propagandaschrift aus den achtziger Jahren gefunden: "Um die Zivilbevölkerung vor Schaden zu bewahren, wurden sie in Gebiete evakuiert, die nicht mehr vom Kampfgebiet berührt wurden."

Für Ingeborg Grabow, die damals 21 Jahre alt war, ist diese Interpretation der blanke Hohn. "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie Männer aus der Stadt in den Wald führten", sagt die heute 85-Jährige. Dort seien sie regelrecht hingerichtet worden. Wer in Treuenbrietzen blieb, sei ebenfalls dem Tode geweiht gewesen: "Alle Zivilisten, die das Stadtgebiet während der Kampfhandlungen nicht verließen, galten als Partisanen und konnten erschossen werden", erinnert sich die zierliche Frau. "Selbst wenn sie, wie meine Großtante, 93 Jahre alt waren, wurden sie getötet." Und Ingeborg Grabow weiß genau, wovon sie spricht, wenn sie von dem Schicksal der Frauen und Mädchen berichtet, die "von den russischen Soldaten wie Freiwild behandelt worden" seien.

"Sie konnten missbraucht, gequält und zutiefst gedemütigt werden." Im Mai 1945 sei dann allen Frauen und Mädchen befohlen worden, sich in einem ehemaligen Verlagsgebäude einer gynäkologischen Untersuchung zu unterziehen. Wegen der Gefahr von Geschlechtskrankheiten. Schon das sei doch ein beredter Beweis dafür, sagt die ehemalige Deutsch-Lehrerin, was in den Tagen zuvor geschehen sei. Und sie fügt leise hinzu: "Wer Rache übt, kann sich nicht als Befreier feiern lassen, auch wenn er mitgeholfen hat, diesen unseligen Krieg zu beenden."

Es gibt noch immer mehrere Thesen, warum die Russen in Treuenbrietzen die Zivilbevölkerung derart massiv attackierten. Für "nicht haltbar" hält Wolfgang Ucksche die Version, Anlass sei eine am 23. April 1945 durchgeführte Massenerschießung italienischer Zwangsarbeiter in einer Kiesgrube nahe der Stadt gewesen. Bei dieser Gräueltat - verübt vermutlich durch Angehörige der Waffen-SS - waren 127 Menschen gestorben. Auch dieses Verbrechen ist noch nicht aufgeklärt. Das Verfahren wird in der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) geführt.

Nach einer anderen Variante - von den Russen damals verbreitet - soll ein fanatischer Nazi den Unmut der Russen ausgelöst haben. Es handelte sich um einen Architekten, der für die Munitionsfabriken tätig war. In der Stadt wurde er SS-Schröder genannt, weil er stets mit seiner schwarzen Uniform durch die Gegend lief. Dieser Architekt soll am 21. April aus seinem Schlafzimmerfenster auf die einziehenden Russen geschossen und dabei einen Offizier getötet haben.

"Die sowjetischen Quellen geben aber keine gefallenen Offiziere für diesen Zeitraum an", sagt Ucksche. Er selber hält es für wahrscheinlicher, dass einen Tag später eine missglückte Siegesfeier Ausgangspunkt des Massakers war. Die russischen Offiziere hatten am Sonntag, den 22. April 1945, in der Kommandantur die Besetzung der Stadt mit reichlich Alkohol begossen. Dabei soll es im Laufe des Abends zu einem Streit und einem Schuss gekommen sein, der den Kommandanten tötete. Einige Stunden später folgte der Gegenangriff der Wehrmacht. "Die Stimmung bei den Russen war auf dem Tiefpunkt", vermutet Ucksche. "Vielleicht waren ihre barbarischen Übergriffe dann ja Folge ihrer Wut über den getöteten Kommandeur und den zunächst erfolgreichen Angriff der Wehrmacht?" Letztlich sei das Vorgehen nach einem Befehl des Oberbefehlshabers der Weißrussischen Front, Marschall Schukow, vom 15. April 1945 ja auch gedeckt gewesen, sagt Ucksche. "Geiselnahmen und Erschießungen von Mitgliedern der ortsansässigen Bevölkerung waren darin eindeutig vorgesehen."

Die Straße mit Leichen bedeckt

Die damals 14-jährige Gerda Berkholz war am 23. April 1945 fassungslos durch die Stadt gelaufen. "Der Anblick, der sich mir bot, war grauenhaft", erinnert sich die heute 78-Jährige. "Die Straße war mit Leichen bedeckt. Es habe "ein Spießrutenlaufen durch die Massen der russischen Soldaten" begonnen. "Ich war noch sehr klein damals, sah aus wie ein Kind", sagt sie, "vermutlich hat mich das in diesen Tagen vor Vergewaltigungen gerettet."

Von 1960 bis 1990 arbeitete Gerda Berkholz in Treuenbrietzen als Standesbeamte. Sie kennt fast jeden in der Stadt. "Der 23. April 1945", sagt sie, sei "hier immer ein Tabu-Thema" gewesen. "Über Russen durfte ohnehin nicht schlecht geredet werden. Das war ja schon ein Staatsverbrechen, wenn man ,die Russen' sagte. Offiziell waren das ,die Freunde'".

Wie stark darauf geachtet wurde, erlebte ein Treuenbrietzener, der 1960 in Eggesin (Mecklenburg-Vorpommern) als NVA-Soldat Kameraden von den Erschießungen der Zivilisten durch die Rote Armee erzählte. Er wurde inhaftiert und ins Stasigefängnis Hohenschönhausen gebracht. "Die haben mich so lange bearbeitet", steht in seinen Erinnerungen, "bis ich ,einsah', dass die Treuenbrietzener Zivilisten durch Krankheiten gestorben seien." Später wurde er zu einem Jahr und vier Monaten Zuchthaus verurteilt.

Ucksche hat auch dieses Schicksal bei seinen Gesprächen ausgegraben. "Das gehört zu unserer Geschichte", sagt er. "Es geht nicht darum, jemanden an den Pranger zu stellen." Ähnlich sieht es Gerd Ulbrich, seit einigen Monaten Direktor des Treuenbrietzener Gymnasiums "Am Burgwall". Er will jetzt mit Ucksche ins Gespräch kommen und dessen Recherchen für den Geschichtsunterricht nutzen.

Auf anderen Gebieten gab es schon eher Erfolge: Seit 1995 wird in Treuenbrietzen offiziell der Opfer der beiden Massaker gedacht. Inzwischen kommen auch Italiener und Russen aus den Botschaften zu dieser Gedenkfeier am 23. April. "Das ist ein guter Anfang", sagt Ucksche. "Wir haben es geschafft, uns über die Gräber hinweg die Hände zu reichen."