Der Versorger Vattenfall will in seinem Industriekraftwerk Rüdersdorf künftig größere Mengen Müll sowie unsortierten und weniger kontrollierten Abfall verbrennen. Dagegen formiert sich in Protest.
Grau und schmutzig. Das war die Gemeinde Rüdersdorf bei Berlin zu DDR-Zeiten. Ein ökologisches Notstandsgebiet. Eine zentimeterhohe Staubschicht bedeckte den Ort. 3000 Menschen arbeiteten einst im VEB Rüdersdorfer Kalk-, Zement- und Betonwerk, dem größten Baustoff produzierenden Betrieb in der DDR. Das örtliche Chemiewerk schleuderte zudem Unmengen von Schadstoffen in die Luft.
Lebensverhältnisse, die heute unvorstellbar sind. Umso hellhöriger wurden die Rüdersdorfer, als sie im Sommer erfuhren, dass der Energiekonzern Vattenfall in seinem Industriekraftwerk IKW künftig größere Mengen an Müll sowie auch unsortierten und weniger kontrollierten Abfall verbrennen möchte. Seither protestiert die Bevölkerung.
Für diesen Dienstag hat die Gemeinde zur Bürgerversammlung im Kulturhaus eingeladen. Gleich zwei Gutachter sollen Auskunft geben, einer im Auftrag der Bürgerinitiativen, der andere im Auftrag der Gemeinde. Beide Experten sehen die Pläne kritisch. In der 15.000 Einwohner zählenden Gemeinde mit den Ortsteilen Hennickendorf, Herzfelde und Lichtenow gibt es inzwischen drei Bürgerinitiativen.
Gemeinde lehnt Pläne von Vattenfall ab
„Wir ziehen alle an einem Strang“, sagt Alfred Possin. Der frühere Bahnmanager und heutige Personalberater hat in diesem Jahr die Bürgerinitiative „Gesund leben am Stienitzsee“ gegründet. Für ihn steht fest: „So wie Vattenfall die Anlage plant, darf das Landesumweltamt sie nicht genehmigen.“
Vor drei Jahren war Alfred Possin mit seiner Frau von Berlin-Mitte nach Hennickendorf gezogen. Das Ehepaar baute ein Haus direkt am Stienitzsee, im neu entstandenen Wohngebiet. Etwa 1000 Meter Luftlinie von ihrem neuen Zuhause entfernt steht das derzeitige Vattenfall-Kraftwerk. Es versorgt das Cemex-Zementwerk daneben mit Strom.
Schon jetzt verbrennt das IKW Müll, 240.000 Tonnen waren es im Jahr 2012. Vattenfall hätte eigentlich eine Genehmigung für 250.000 Tonnen. Künftig aber will Vattenfall bis zu 20.000 Tonnen mehr verbrennen. Doch was die Bürger noch viel mehr beunruhigt: Es sollen Krankenhausabfälle, Klärschlämme und Gewerbemüll verbrannt werden.
Bürgermeister von Rüdersdorf geriet in die Kritik
Damit wächst das Risiko, dass unerwünschter Müll wie Elektroschrott und sogar radioaktiv verseuchte Abfälle in die Anlage geraten – zumal weniger Annahmekontrollen vorgesehen sind als bislang. Diese Befürchtungen teilt auch die Gemeindevertretung. Sie hat sich einstimmig gegen den Änderungsantrag von Vattenfall ausgesprochen.
„Ich war für die Inbetriebnahme des IKW“, sagt Bürgermeister Andre Schaller (CDU). „Doch den neuen Plänen kann ich so nicht zustimmen.“ Er nehme die Sorgen der Bürger sehr ernst. „Von uns wird Vattenfall keinen Blankoschein für die Erweiterung der Anlage bekommen“, versichert er. „Aus baurechtlicher Sicht entsprechen die neuen Pläne nicht den Bedingungen eines gesunden Wohnens.“
Der Bürgermeister war in die Kritik geraten, weil er die Menschen nicht gleich informiert hatte. 13 Wochen sind nach dem Gemeindevertretungsbeschluss vergangen, bis er jetzt die erste Bürgerversammlung abhält. Er verteidigt sich: „Auch wir wurden überrascht. Die Gemeindevertretung musste sich bis Anfang Juli äußern, die Frist für die öffentliche Auslegung hingegen lief bis 23. August.“
Unterstützung durch Landratsamt
Unterstützung erhält die Gemeinde durch das Landratsamt. Landrat Gernot Schmidt (SPD) wandte sich mit Bürgermeister Schaller an Umweltministerin Anita Tack (Linke). „Zu diskutieren ist unter anderem die Frage, inwieweit die technischen Standards der vorhandenen Anlage für die Erweiterung geeignet sind“, heißt es in dem der Berliner Morgenpost vorliegenden Schreiben an Tack. „Es muss Konsens sein, dass die beantragten Änderungen durch den Einsatz höchstmöglicher Standards flankiert sein müssen. Dies gilt umso mehr, als für den Bau der Anlage durch das Land Brandenburg Fördergelder ... ausgereicht wurden.“
Einen Etappensieg haben die Bürgerinitiativen, die sich zum Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben, schon errungen: Matthias Freude, Präsident des Landesumweltamts, stellte in Aussicht, dass beim TÜV Nord ein Gutachten in Auftrag gegeben wird, das klären soll, „ob die Anlage dem Stand der Technik entspricht“. Deshalb wird der für Ende Oktober geplante Erörterungstermin verschoben. Die Bürgerinitiative schätzt, dass etwa 2000 Einwendungen vorliegen. Das vom Aktionsbündnis und der Gemeinde geforderte humantoxikologische Gutachten lehnt Freude ab.
Vattenfall reagiere auf veränderte Marktsituation
Vattenfall-Sprecher Hannes-Stefan Hönemann weist den Vorwurf zurück, dass erstmals in Deutschland ein Industriekraftwerk auf eine Müllverbrennungsanlage umgestellt werden soll. „Das IKW war schon immer eine Müllverbrennungsanlage“, sagt er. „Wir hoffen, dass sich die Ängste durch die Fakten reduzieren lassen.“
Vattenfall reagiere mit dem Änderungsantrag auf die veränderte Marktsituation. Das IKW Rüdersdorf könne aufgrund der eingeschränkten Müllsorten nicht marktgerecht mitbieten. Auch künftig würden nur ungefährliche Müllarten verbrannt. „In 99,9 Prozent liegen die bei Messungen festgestellten Schadstoffwerte unterhalb des Grenzwertes“, sagt Hönemann. „Es gibt keine Anlage, die immer zu 100 Prozent perfekt läuft.“ Alfred Possin hingegen sagt: „Bei den hochtoxischen Stickoxiden ist das IKW schon heute eine der schmutzigsten Anlagen Europas.“